Zionismus, Propaganda und die Lehren aus der deutschen Geschichte

Tel Aviv

24.2.2024

Das Hotel erinnert an eine mit Buddha Statuen, farbigen Leuchtketten und Plüschteppichen aufgemotzte DDR-Kaserne. Besonders die schmale Veranda mit dem aufblasbaren runden Pool und den winzigen Hockern ist eindrucksvoll. Es ist schöner, sonniger Tag. Strandwetter. Der Strand ist von der Veranda des Hotels aus zu sehen.  Nachdem ich dort meinen Espresso getrunken habe, ein Geschenk des Rezeptionisten, der alle männlichen Gäste mit „Brother“ anspricht, mache ich mich auf den Weg.

Auf dem Weg zum Strand entdecke ich ein McDonalds und nutze die Gelegenheit, um zu frühstücken und online zu gehen.  Auch auf den Anzeigentafeln der McDonalds Filiale wechseln sich Bilder der Geiseln der Hamas in Gaza mit Werbung für Burger und Chicken Wings ab. Trotz dieser Omnipräsenz und vereinzelter Proteste der Bevölkerung gegen die Politik Netanjahus, setzt die israelische Armee ihre Vergeltungskampagne gegen die palästinensische Zivilbevölkerung mit voller Intensität fort.

An diesem Tag, Samstag, dem 24.2 2024, sind laut der Webseite des „OCHA“, dem „Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten“, 1.7 Millionen Menschen in Gaza auf der Flucht.

Die israelische Luftwaffe intensiviert ihre Angriffe auf bewohnte Gebiete in Raffa. Mittlerweile suchen in Raffa 1.5 Millionen Menschen Schutz, das Sechsfache der Bevölkerung vor dem 7.10.2024.  Seit dem 7. Oktober tötete die israelische Armee fast 30 000 Menschen im Gaza-Streifen; mehr als die Hälfte waren Frauen und Kinder.

Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 23. Februar 2024 fielen den Israelis im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, 399 Palästinenser zum Opfer. Mehr als 100 der Opfer waren Kinder.  2023 war das tödlichste Jahr für Palästinenser im Westjordanland seit Beginn der Aufzeichnungen durch die Vereinten Nationen in 2005.

Philippe Lazzarini, Generalkommissar von „UNRWA“, dem  „Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten“, wird mit folgender Feststellung zitiert: „In etwas mehr als vier Monaten wurden in Gaza mehr Kinder, mehr Journalisten, mehr medizinisches Personal und mehr UN-Mitarbeiter getötet als irgendwo sonst auf der Welt während eines Konflikts.“ 58

1.7 Millionen Menschen auf der Flucht – Frauen, Kinder, Alte, zu Fuß, auf Fahrrädern und Eselskarren, aus der Luft mit Bomben beworfen. Viele sind unterernährt, alle sind untergebracht in Zelten und Notunterkünften.  Der Kontrast zum 71 Kilometer entfernten Strand von Tel Aviv könnte nicht größer sein.

Auf der Strandpromenade marschiert an diesem Morgen eine endlose Parade attraktiver Frauen in Lululemon-Leggings. Die Stimmung ist entspannt und heiter, es wird Beachvolleyball gespielt und Volkstanz in der Gruppe improvisiert. Ein Beach Boy mit breitem Kreuz trägt eine automatische Pistole hinten im Hosenbund seiner Shorts.  Ich gelange zu einer zu einer breiten, mit Sonnendächern geschützten Treppe. Mir fällt auf, dass die Fassade des Hauses am Kopf der Treppe mit den Farben der Regenbogenflagge geschmückt ist.

Die Dekoration erinnert mich an die „Brand Israel“ Werbekampagne; Ziel der Kampagne war, das Image Israels in den USA zu verbessern. Es sollten positive Assoziationen verankert werden anstelle von Krieg und Konflikt; auch in den USA ist die irrige Annahme von einem schon seit Jahrhunderten andauernden religiös motivierten Konflikt weit verbreitet.  Wichtigste Zielgruppe der Kampagne waren US-Amerikaner zwischen 18 und 31 Jahren. Anfangs konzentrierten sich die Macher der Kampagne vor allem auf den heterosexuellen Teil der Zielgruppe.

Star der ersten, gemeinsam mit dem Männermagazin „Maxim“ organisierten Kampagne war die später als „Wonder Woman“ bekannt gewordene Gal Gadot. Das Titelbild der Serie war zugleich die Einladungskarte des Konsulats, das sich nicht hatte nehmen lassen, anlässlich der Präsentation der „Maxim“ Ausgabe eine Feier zu organisieren. Die Fotoserie erschien mit der Schlagzeile „Die Auserwählten: Israeli Defense Forces“ und Text: „Sie sind umwerfend schön und können eine Uzi in Sekundenschnelle auseinandernehmen. Sind die Frauen der israelischen Streitkräfte die heißesten Soldatinnen der Welt?“ 59

Die Bilder selbst sind leider online nicht mehr zu finden, werden aber in einem von der Universität Heidelberg unter dem Titel „Das israelische Militär im öffentlichen Raum“ veröffentlichten Artikel so beschrieben: „Visuelle Inszenierungen wie diese, in denen vermeintlich Militärisches allenfalls im Hintergrund angedeutet wird, während sexuelle Reize demonstrativ in den Vordergrund gerückt werden, erinnern an die Ikonografie moderner Kampfamazonen aus den verschiedensten Unterhaltungsgenres wie beispielsweise der fiktiven Cyber-Heldin Lara Croft aus dem Video- und Computerspiel Tomb Raider oder der in den 1960er Jahren bekannten Comic- und Filmfigur Barbarella. Dieser Figurentypus versinnbildlicht durch enganliegende, figurbetonte Kleidung und das Tragen von Stiefeln und Waffen eine Mischung aus weiblichem Sex-Appeal, Macht und militärischer Stärke.“ 60 

In the Name of Love

Man könnte denken, diese staatlich finanzierte Erotisierung von Macht und Gewalt sei an Geschmacklosigkeit schwer zu überbieten, aber das wäre ein Irrtum. Getrieben durch den Imperativ, vom zionistischen Kolonialprojekt und der brutalen Unterdrückung der Palästinenser abzulenken, änderte die „Brand Israel“ Kampagne ihre Stoßrichtung und konzentrierte sich  im weiteren Verlauf darauf, Tel Aviv als queere Oase in der Wüste arabischer Homophobie zu feiern.  

Dabei passt der israelische Staat die Botschaft zielgruppengerecht an: Wenn er sich an ein liberales, LGBTQ-freundliches Publikum in Israel oder dem Rest der Welt wendet, produziert er rosa Rhetorik, um Israel als Schwulenparadies darzustellen. Für homophobe Zielgruppen im Inland und für christliche Zionisten im Ausland liegt der Akzent auf Konservatismus und dem Festhalten an Familienwerten.

Die zynische Nutzung des Themas, von Kritikern „Pinkwashing“ getauft, gipfelte im November 2023 in diesem auf „X“ veröffentlichtem Foto der Zerstörung in Gaza:

Die Episode ist ein gutes Beispiel für die Entgleisung der israelischen Propaganda und die moralische Erosion der Gesellschaft, die sie produziert. Objektiv betrachtet war die Konzentration auf das Thema Homosexualität ein intelligenter Schachzug. Es ist besser, selektiv gewählte Tatsachen für eine Kampagne zu nutzen, wenn man langfristig erfolgreich sein will.  Gute Propaganda lügt mit der Wahrheit.

Es ist wahr, dass die Gesetzeslage in Israel beim Thema Homosexualität im Vergleich zu den meisten Ländern der Region wesentlich humaner und aufgeklärter ist. Es trifft zu, dass innerhalb der islamischen Welt kaum Toleranz für Homosexualität existiert. Es besteht kein Zweifel daran, dass die überwältigende Mehrheit islamischer Theologen Homosexualität extrem ablehnend gegenübersteht. 

Diese Stellungnahme einer Assoziation australischer Imame ist ein gutes Beispiel dafür: „Aus islamischer Sicht ist Homosexualität eine verbotene Handlung, eine schwere Sünde, und jeder, der sich daran beteiligt, wird als ungehorsamer Diener Allahs betrachtet, der sich seinen Unmut und seine Missbilligung zuzieht. Dies wird in den drei Hauptquellen der Scharia eindeutig festgestellt: Der Koran, die Sunna und der Konsens aller Gelehrten, der sich von der Zeit des Propheten bis heute erstreckt.“ 61

Homosexualität wird in vielen islamischen Ländern abgelehnt und streng bestraft.  In diesen Ländern steht laut eines Infoblatts der amerikanischen Regierung auf einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen die Todesstrafe: Iran, Saudi-Arabien, Jemen, Nigeria, Somalia, Mauretanien, Vereinigte Arabische Emirate, Katar, Pakistan, Afghanistan. 62 Nur im Iran scheint die Todesstrafe für Homosexualität tatsächlich weiter Anwendung zu finden, zuletzt wurden laut „Associated Press“ 2022 zwei Männer im Iran für das Verbrechen der Homosexualität exekutiert. 63

Fehlende Phantasie einer Königin

Das britische Mandatsstrafgesetzbuch von 1936, das in Gaza weiterhin gilt, kriminalisiert  „widernatürliche“ sexuelle Handlungen zwischen Männern mit einer Höchststrafe von zehn Jahren Gefängnis. Im britischen Recht wurden nur Männer berücksichtigt, angeblich weil Queen Victoria nicht in der Lage war sich vorzustellen, dass Frauen zu solchen Akten überhaupt fähig sein könnten.

Obwohl dieses Gesetz formell in Kraft ist, gibt es kaum Hinweise auf seine tatsächliche Anwendung in der Praxis. Die rechtliche Situation ist komplex, und einige Experten argumentieren, dass das Gesetz so interpretiert werden könnte, dass einvernehmliche homosexuelle Handlungen nicht strafbar sind.64

Die entscheidende Frage ist natürlich: Was hat das alles damit zu tun, dass Israel eine von europäischen Siedlern geplante Kolonie ist, die die einheimischen Bevölkerung, die „Eingeborenen“ von ihrem Land vertrieben hat und seitdem benachteiligt, unterdrückt, beraubt und periodisch massakriert?

Nichts.

Effektive Propaganda dämonisiert, indem sie Menschen auf Karikaturen reduziert.  Karikaturen funktionieren nur, wenn sie einen wahren Kern enthalten. Dieser wahre Kern dient aber nicht als Ausgangspunkt für eine Argumentation. Logik spielt hier keine Rolle. In Saudi-Arabien wurden 2002 noch drei schwule Männer geköpft. 65 Gibt das der freien, zivilisierten, westlichen Welt das Recht Saudi-Arabien zu kolonisieren?

Ziel von Propaganda ist nicht Argumentation, sondern Abwertung, Ablenkung und Obfuskation. Gute Propaganda kommt einfühlsam und wohlwollend daher, wie zum Beispiel in diesem Artikel im „Algemeiner“, einer in den USA erscheinenden zionistischen Publikation: „Die brutale Behandlung von LGBTQ+-Palästinensern unter der Hamas ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, die dringend Aufmerksamkeit erfordert. Die geopolitische Komplexität des israelisch-palästinensischen Konflikts ist immens, doch die grundlegenden Menschenrechte von LGBTQ+-Personen sollten nicht in den Hintergrund gedrängt werden. Ihr Leid ist eine deutliche Erinnerung an die Brutalität, der marginalisierte Gruppen unter Unterdrückungsregimen ausgesetzt sind.“66

Der entscheidende Satz: „Die geopolitische Komplexität des israelisch-palästinensischen Konflikts ist immens, doch die grundlegenden Menschenrechte von LGBTQ+-Personen sollten nicht in den Hintergrund gedrängt werden.“

Die immergleichen Phrasen: Der Konflikt ist schrecklich komplex und schwer zu verstehen, sie hauen sich da unten schon seit Jahrhunderten die Köpfe ein, religiöse Fanatiker hüben wie drüben.  Daran lässt sich nichts ändern; lassen wir das Thema lieber beiseite.

 Es ist auf jeden Fall falsch und böse, dass die Hamas die Schwulen schlecht behandelt. Das sind Barbaren; keine edlen Wüstenritter wie die treuen Freunde und Verbündeten der freien Welt, die Saudis, die schon lange keine Schwulen mehr köpfen, sondern nur noch ganz zivilisiert auspeitschen lassen. 67

Die immergleichen Phrasen – keine davon ist wahr. Der Konflikt ist nicht schwer zu verstehen. Ist der Konflikt zwischen den weißen Siedlern und der einheimischen Bevölkerung in den USA, in Kanada oder in Australien schwer zu verstehen gewesen?

Talentierte Propagandisten der zionistischen Sache wie der „Times of Israel“ Journalist Haviv Rettig Gur, bringen an dieser Stelle gerne den Einwand, dass viele der europäischen Einwanderer heimatlose Holocaustüberlebende gewesen seien. Das ist zutreffend, auch wenn die zionistische Elite um Ben Gurion und Jabotinsky schon lange vor dem Holocaust in Palästina siedelte.68

Diese zynische, manipulative Instrumentalisierung menschlichen Leidens als Rechtfertigung für die Kolonisierung und ethnische Säuberung der Palästinenser ist ein rhetorischer Trick.  Juden waren nicht die einzige Menschgruppe, die dem Holocaust zum Opfer gefallen sind.  Unter anderen wurden auch 500.000 Roma/Romnija und Sinti/Sintizze während des Holocaust ermordet.

Die Verschlingung der Roma und Sinti

Sie wurden im Vernichtungslager Auschwitz vergast und fielen in Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern Gewalt, Hunger und Krankheiten zum Opfer. Viele wurden deportiert und als Zwangsarbeiter ausgebeutet. Roma und Sinti nennen diesen Genozid „Porajmos“, was „Verschlingung“ oder „Zerstörung“ auf Romani bedeutet.

 Sprachanalysen ergaben, dass Roma und Sinti ursprünglich aus Indien stammen. Gibt das Verbrechen des Holocausts den Überlebenden Roma und Sinti und ihren Nachfahren das Recht, in Indien eine Kolonie zu errichten und die einheimische Bevölkerung zu vertreiben?

Rettig Gurs Einlassungen und der Artikel im „Algemeiner“ sind Beispiele für effektive Propaganda in Form von manipulativer Rhetorik. Sie erkennen aus taktischen Gründen Punkte der Gegenseite an, kommen einfühlsam und nachdenklich daher, ohne aber in ihrer ungerechten Sache auch nur einen Zentimeter nachzugeben. Sie halten keiner kritischen Überprüfung stand, aber das tut Propaganda nie.

Stadien moralischer Erosion

Schlechte Propaganda macht sich schon auf den ersten Blick lächerlich, ist grotesk und abstoßend, so wie das „In The Name of Love“ Foto.  Die Dehumanisierung der Palästinenser ist offensichtlich so weit fortgeschritten, dass vielen Israelis der Kontrast gar nicht mehr auffällt. Sie assoziieren die Ruinen Gazas nicht mit menschlichen Leiden. 

Sie sind buchstäblich nicht mehr in der Lage, den grotesken Kontrast zwischen der Symbolik der Regenbogenflagge und den zerbombten Wohnhäusern überhaupt wahrzunehmen.

 Ihre moralische Erosion scheint sich im finalen Stadium zu befinden. Sie sind unfähig, Humanität auch nur zu heucheln. Das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza hat für sie seine reale, menschliche Dimension vollständig verloren.  Die Palästinenser im Gazastreifen sind für sie nicht mehr als „cockroaches“. Kakerlaken. So nennt sie Dan Schueftan, ein bei deutschen Institutionen beliebter „Sicherheitsexperte“ während eines Interviews für den Podcast „Two Nice Jewish Boys“. 69

Besonders drastisch zeigt sich die Entwicklung innerhalb der israelischen Armee.  Verstörend ist dabei der Umstand, dass viele Beweise für die moralische Degeneration von den israelischen Soldaten selbst aufgezeichnet und veröffentlich werden. Ähnlich wie im Fall der Regenbogenflagge vor dem Hintergrund der Trümmer Gazas scheint den Soldaten nicht bewusst zu sein, wie ihre Videobotschaften von Menschen außerhalb der israelischen Gesellschaft wahrgenommen werden.

Hunde fressen die Leichen

Am fünften Februar 2024 hat beispielsweise ein im Gazastreifen stationierter israelischer Soldat ein Video veröffentlicht, das einmal mehr zeigt, wie verheerend sich die Besatzung und der religiös verbrämte, blutrünstige Nationalismus auf die Psyche vieler Israelis ausgewirkt hat.

Hier ein Textauszug: „Wir sind die Söhne Abrahams … Wir sind die Söhne Josuas, der dieses Land von sieben verschiedenen Völkern eroberte. Erinnert ihr euch an die Kanaaniter? Die Hethiter? Die Jebusiter? Sie alle sind von der Welt verschwunden und das Volk Israel ist hier, um zu bleiben … Und sie haben versucht, uns zu bekämpfen … und jedes Mal haben sie verloren. Jedes Mal haben wir gewonnen, und das dank des Heldentums der Soldaten und Bürger Israels … Sie sind nicht nur menschliche Tiere, sie sind auch Idioten, sie geben ihrem Volk keine Hoffnung, nur Hass und Blut und Hölle.“ 70

Der Haaretz Artikel „Keine Zivilisten. Jeder ist ein Terrorist.“ beweist, dass die genozidalen Rachephantasien auch in die Tat umgesetzt wurden: „Für die Division erstreckt sich die ‚kill zone‘ so weit, wie ein Scharfschütze sehen kann.

Wir töten dort Zivilisten, die dann als Terroristen gezählt werden. Die Statements des IDF-Sprechers über Opferzahlen haben es zu einem Wettbewerb zwischen den Einheiten gemacht. Wenn die eine Division 150 erledigt, will die nächste Einheit 200 töten. Nach den Schüssen werden die Leichen nicht eingesammelt. Das lockt die Hundemeuten an, die sie fressen. In Gaza wissen die Menschen, dass man sich von diesen Hunden fernhalten muss, wo immer man sie sieht.“

„Einmal entdeckten Wachen jemanden, der sich von Süden näherte. Wir reagierten, als wäre es ein großer militanter Überfall. Wir nahmen Stellung ein und eröffneten einfach das Feuer. Ich spreche von Dutzenden von Kugeln, vielleicht sogar mehr. Etwa ein bis zwei Minuten lang schossen wir einfach auf den Körper. Die Leute um mich herum schossen und lachten. Wir näherten uns dem blutüberströmten Körper, fotografierten ihn und nahmen das Handy an uns. Er war noch ein Junge, vielleicht 16 Jahre alt.“

Ein Nachrichtenoffizier sammelte die Gegenstände ein und Stunden später erfuhren die Kämpfer, dass der Junge kein Hamas-Aktivist war, sondern nur ein Zivilist. „An diesem Abend gratulierte uns unser Bataillonskommandeur zum Tod eines Terroristen und sagte, er hoffe, dass wir morgen zehn weitere töten würden.“ 71

„Die Juden sind vor allem eine Rasse“

Der rassistische Überlegenheitsdünkel begleitet das zionistische Kolonialprojekt von Anfang an.  Der Philosoph Moses Hess, Zeitgenosse und zeitweiliger Kollaborateur von Karl Marx, war einer der Vordenker des Zionismus und schrieb in seinem 1862 erschienen Werk „Rom und Jerusalem“: „Die Juden sind vor allem eine Rasse. Sie sollten die Zivilisation zu den primitiven Völkern Asiens bringen und Lehrer der europäischen Wissenschaften sein.“

Herzl, der Gründervater des modernen Zionismus, lässt eine der eindimensionalen Figuren seines 1902 erschienen Romans „Altneuland“ folgende Überlegung bezüglich der erfolgreichen Kolonisierung des afrikanischen Kontinents vortragen: „Aber die Verhältnisse sind anders in Afrika. Dort sind alle diese Aufwendungen nicht möglich, weil die Vorrausetzung, die Masseneinwanderung fehlt. Der weiße Mensch, der Kolonisator, geht dort zu Grunde. Afrika wird für die Kultur erst dann eröffnet sein, wenn die Malaria unschädlich gemacht ist.“

Rassistischer Überlegenheitsdünkel war zum damaligen Zeitpunkt allgemein akzeptierter Standard und ist kein Alleinstellungsmerkmal der zionistischen Ideologie oder der Europäer. Sklavenhandel, Rassismus und brutale Dehumanisierung von als minderwertig definierten Menschengruppen waren auch im arabischen Raum weit verbreitet.

Pyrrhussieg

Obwohl die „Nakba“, die Vertreibung der Palästinenser und der Raub ihres Landes, am Anfang der Geschichte Israels steht, sehen viele Israelis den Sechstagekrieg von 1967 als den Moment, in dem das Land seinen Weg verlor und der Prozess der moralischen Degeneration begann.

Aus dieser Perspektive markiert der Sechstagekrieg, ein militärischer Triumph Israels, den Beginn der moralischen Erosion durch die Besatzung. Die Eroberung des Westjordanlandes, Ostjerusalems, des Gazastreifens und der Golanhöhen verwandelte Israel in eine Besatzungsmacht. Kritiker warnten früh, dass die dauerhafte militärische Kontrolle über Millionen Palästinenser Israels Seele vergiften würde.  Besonders pointiert und prophetisch war die Kritik von Yeshayahu Leibowitz.

Von Nationalität zu Bestialität

Der israelische Denker Yeshayahu Leibowitz war ein seltenes Phänomen: ein Universalgelehrter, der Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie mit gleicher Schärfe durchdrang. Geboren in Riga, promovierte er in Chemie und Medizin, lehrte Biochemie an der Hebräischen Universität Jerusalem und veröffentlichte bahnbrechende Arbeiten zur Neurophysiologie.

 Nach dem Sechstagekrieg 1967 warnte er vor der „korrumpierenden Macht der Besatzung“ und zog Parallelen zwischen israelischem Militärhandeln und NS-Methoden – eine Aussage, die ihm Todesdrohungen einbrachte. 1993 lehnte er den Israel-Preis ab, aus Protest gegen eine Regierung, die er als moralisch bankrott ansah. Was der 1994 verstorbene Leibowitz prophezeit hat, ist eingetroffen:

„Seit dem Sechstagekrieg ist Israel zu einem Machtapparat geworden, einem jüdischen Machtapparat, der über ein anderes Volk herrscht. Deshalb sage ich in aller Deutlichkeit: Dieser glorreiche Sieg war das historische Unglück des Staates Israel. Im Jahr des „Frühlings der Völker“, 1848, warnte Franz Grillparzer vor dem Weg, der von der Menschlichkeit über die Nationalität zur Bestialität führt. Im 20. Jahrhundert ist das deutsche Volk diesen Weg tatsächlich bis zum Ende gegangen. Wir haben diesen Weg nach dem Sechstagekrieg beschritten. “ 72

Ich gehe noch ein ganzes Stück weiter am Strand entlang. Auch am Strand gibt es kein Entrinnen vor der israelischen Flagge. Ich kann sie nicht mehr sehen. 

Ich versuche, objektiv zu bleiben, mir zu vergegenwärtigen, dass die Israelis am siebten Oktober Opfer einer mörderischen Attacke geworden sind, dass kleine Kinder entführt wurden; dass sie von Kindheit an durch Propaganda manipuliert werden und unfähig sind zu erkennen, dass die Palästinenser nicht die Nachfolger der Nazis sind, sondern ein unterdrücktes Volk, dass sich gegen Landraub und Kolonisierung wehrt. Diese erworbene Blindheit für das Offensichtliche ist erschreckend.

Ich bin nach Israel gereist, um mir selbst ein Urteil zu bilden. Ich wollte es mir nicht zu leicht machen und mich nur auf Bücher, Artikel und Videos verlassen. Mir war es wichtig, mich direkt mit der Realität und den Menschen im Land zu konfrontieren.

 Für mich besteht kein Zweifel mehr daran, dass ein großer Teil der israelischen Bevölkerung einer gefährlichen nationalistischen Ideologie anhängt, die sich der Symbolik des Judentums bedient, aber die ethischen Werte dieser Religion ablehnt.

Die israelische Propaganda besteht auf der Gleichsetzung von Zionismus und Judentum, aber diese Gleichsetzung ist irreführend und unzutreffend. Leibowitz es schon 1990 in einem Interview auf den Punkt gebracht: „Das Wort ‚Nationalität‘ kann mehrere Bedeutungen haben. Eine davon ist einfach die Feststellung einer Tatsache. Ein Mann ist in der Tat der Sohn eines bestimmten Volkes. In diesem Sinne hat er keine Wahl.

Er wird geboren und lebt in einer Art „natürlicher Realität“. Das Wort Nationalität kann aber auch ein bestimmtes „Programm“ bedeuten, und dann ist es am abscheulichsten und verachtenswertesten. In Israel gibt es ein Programm. 

‚Wer sind wir?‘, ‚Was sind wir?‘, ‚Was sind unsere Werte?‘ Die Frage ist sehr schwer zu beantworten, also vermeiden wir sie, weil wir diejenigen sind, denen alles Unrecht zugefügt wurde. Also erlauben wir uns, anmaßend und unmoralisch zu sein … ,aber wen kümmert es, da wir diejenigen sind, denen alles Unrecht zugefügt wurde! Wir müssen nur daran erinnert werden und sind sofort von allem befreit! Wir können also Araber in Flüchtlingslagern massakrieren. Sind wir nicht diejenigen, die das alles überhaupt erst verursacht haben?“ 73

Viele Deutsche wollen sich aus verständlichen Gründen nicht zum Thema äußern. Sie denken, dass es ihnen nicht zusteht, die Nachfahren der Opfer des Holocausts zu kritisieren. Aber kann das die richtige Lektion aus dem Holocaust sein? Die Fokussierung auf die eigene, die deutsche Identität vis-à-vis der Identität der jüdischen Israelis?

Ist nicht die Lektion aus dem Holocaust genau im Gegenteil der Auftrag, von Identitätskonstrukten und Etiketten abzusehen und sich auf das universell Menschliche, alle Individuen Verbindende zu konzentrieren?

Jede Form von Dehumanisierung ist gleichermaßen verwerflich, es darf hier keine Rangfolge geben. Diese Einsicht ist die große ethische Errungenschaft unserer Zeit, eine Entwicklung, die wir auch dem Christentum und damit seinem Ursprung, dem Judentum, zu verdanken haben.  Artikel 1, Charter der UN: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“  

Ein universales Potential

Die Ereignisse in Palästina beweisen aufs Neue, dass alle Menschen das Potential zur Dehumanisierung des Anderen latent in sich tragen. Aktiviert wird dieses Potential auf Seiten der jüdischen Israelis durch die nationalistische Ideologie des Zionismus.

 Der Zionismus ist der ideologische Überbau für ein im neunzehnten Jahrhundert ersonnenes Siedlerkolonialprojekt und bedient sich des Holocausts und der langen Leidensgeschichte der Juden in Europa, um ein ständiges Gefühl der Bedrohung aufrecht zu erhalten.

Auf diese Weise legitimiert der Zionismus die Unterdrückung, Vertreibung und Misshandlung der einheimischen Bevölkerung. Kommuniziert und verstärkt wird die zionistische Ideologie durch dämonisierende Propaganda, einer Form von Kommunikation, die nach Aldous Huxleys berühmter Definition das Ziel verfolgt, eine Gruppe von Menschen die Menschlichkeit anderer Gruppen vergessen zu lassen.

Kein moralischer Fortschritt erkennbar

Heute wird diese Art von Propaganda häufig mit Plakaten und Slogans aus der Zeit der Weltkriege assoziiert. „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos“ ist ein berühmter Slogan aus dem Ersten Weltkrieg; im Jahr 2024 wirkt er absurd und lächerlich. Es könnte leicht der Eindruck entstehen, dass wir uns weiterentwickelt hätten, dass wir 2024 humaner und zivilisierter seien. Dieser Eindruck täuscht, daran lässt der von den USA und Deutschland unterstützte Massenmord in Gaza keinen Zweifel.

Die dehumanisierenden Karikaturen des Anderen werden heute nicht mehr plakatiert. Das ist nicht nötig, denn sie werden kontinuierlich als Figuren in den Produkten der Unterhaltungsindustrie präsentiert. Bärtige arabische Terroristen und tätowierte russische Gangster sind unverzichtbare Bestandteile gemütlicher deutscher Fernsehabende. Da sich die amerikanische Elite auf eine Konfrontation mit China vorbereitet, werden wir sicher bald noch mehr geheimnisvoll lächelnde, sadistische Chinesen sehen.

Dämonisierende Propaganda ist weiterhin in der Lage, das Verständnis der Welt auf eine Weise zu manipulieren, die zumindest einem Teil der Bevölkerung suggeriert, auf der richtigen Seite zu stehen, während sie einen Massenmord ignoriert oder sogar unterstützt.  Die Ästhetik ist eine andere und die Methoden sind raffinierter geworden, aber Propaganda liefert weiter das Rohmaterial, um sich von der Richtigkeit einer moralisch falschen Haltung zu überzeugen.

Die Welt als Superheldenfilm

Zementiert wird die Dehumanisierung des Anderen durch eine Massenmedienmaschinerie, die sich weigert, Zusammenhänge herzustellen und Ereignisse wie den 7. Oktober als spontane böse Akte darstellt, nicht als Teil einer Kette von Aktion und Reaktion.

Diese Verzerrung der Wahrnehmung hat eine Situation geschaffen, in der alles möglich erscheint. Die Berichterstattung der westlichen Massenmedien trägt dazu bei, das Verständnis der Welt auf das Niveau eines Superheldenfilms zu reduzieren.

Das dichothomische Denken, die Klassifizierung von Menschengruppen in „good guys“ und „bad guys“ ist eine Vorstufe zu dehumanisierendem Denken.  Die anderen sind böse. Sie sind nicht von dem Motiv getrieben, sich gegen eine brutale Kolonialmacht zu wehren, die während der Gründung des israelischen Staates fast 800 000 Menschen mit Gewalt vertrieben und über 2 Millionen Nachkommen der Flüchtlinge in Gaza über Jahrzehnte wie Sträflinge behandelt hat. 

Wer erteilt Staaten das Existenzrecht?

Der israelische Staat ist „in Sünde geboren“, wie der israelische Soziologe Baruch Kimmerling in seinem Buch „Politizid“ “ schreibt. Er ist in Sünde geboren, wie Australien, Kanada und die Vereinigten Staaten von Amerika. Haben diese Länder deswegen kein Recht darauf zu existieren? Gibt es überhaupt ein Land, das ein Recht darauf hat zu existieren?  Wer erteilt einem Land das Recht zu existieren?

 Die Siedler in den USA, Australien und Kanada haben sich das Recht genommen.  Sie haben den Großteil der einheimischen Bevölkerung vertrieben und ermordet. So haben sie ihren Widerstand gebrochen. In Israel ist das bisher aus verschiedenen Gründen nicht gelungen, aber der Prozess ist weiter im Gange. 

Wenn das Morden aufhören soll, dann erscheint der Weg, den Südafrika genommen hat, der einzig gangbare:  Die „One-State Solution“, die „Ein-Staat-Lösung“, so unrealistisch diese Idee im Moment auch klingen mag.74

Die Zukunft Israels und Palästinas kann nicht auf der Auslöschung oder der Beherrschung eines Volkes durch ein anderes basieren. Die Ein-Staat-Lösung würde eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ein Bekenntnis zur Gleichberechtigung aller Bürger Israels erfordern.

Die Unterscheidung zwischen Staatsbürgerschaft und Nationalität müsste verschwinden.  Es gäbe nur noch Israelis mit unterschiedlichen Religionen und keine ethnische Unterteilung in „Juden“ und „Araber“.

Die Lehren aus der deutschen Geschichte

Es ist mein letzter Tag in Israel. Es war mein erster und vielleicht letzter Besuch. Niemand hat mich schlecht behandelt. Aber es ist genau dieser bizarre Kontrast zwischen dem Respekt und der Freundlichkeit, die ich erlebt habe und der mörderischen Verachtung, mit der die Palästinenser in den besetzten Gebieten behandelt werden, die mir das Land  zutiefst unheimlich macht.

Abgesehen davon könnte ich mir vorstellen, dass die Veröffentlichung dieses Textes ausreicht, um mich als Feind Israels zu brandmarken und mir eine weitere Einreise zu verweigern. Ich bin nicht „gegen die Existenz Israels“ oder bezweifle „Israels Recht zu existieren“, um zwei Phrasen der israelischen Propaganda aufzugreifen. Ich bin gegen Massenmord und gegen Unterdrückung, ich bin gegen Ethnonationalismus und gegen eine Zweiklassengesellschaft.

Ich lege keinen „besonders strengen Maßstab“ an Israel an oder bin auf das Land „fixiert“. Ich habe mir die Situation nicht ausgesucht. Ich bin zufällig Deutscher und mit der Diskussion über die Lehren aus der Geschichte Deutschlands aufgewachsen. Die deutsche Regierung unterstützt den Massenmord in Gaza. Ich bin dagegen und obwohl mir natürlich bewusst ist, wie wenig ich ausrichten kann, halte ich stilles Kapitulieren für falsch. Das ist eine der Lehren, die ich aus der deutschen Geschichte gezogen habe.

Menschen sind gefährliche Wesen

Eine andere Lehre aus der deutschen Geschichte ist für mich diese: Ich verstehe sie als den Auftrag, sich gegen die Manipulierung durch nationalistische Propaganda zu wehren und sich gegen jede Form von Dehumanisierung zu stellen. Die Lehre aus der deutschen Geschichte sollte sein, dass eine von allen Angehörigen der Spezies geteilte menschliche Natur existiert. Diese Gemeinsamkeit ist von größerer Bedeutung als alle oberflächlichen Etiketten.

Genau wie die lange Erfahrung von Ungerechtigkeit,  Verfolgung und Unterdrückung die Juden und ihre Nachfahren nicht davor bewahrt hat, Täter zu werden, sondern im Gegenteil den Treibstoff für das zionistische Projekt geliefert hat, hat die lange Erfahrung von  Ungerechtigkeit, Verfolgung und Unterdrückung aller Wahrscheinlichkeit nach einen ähnlichen Effekt auf die Palästinenser.

 Alle, ausnahmslos alle Menschen sind gefährliche Wesen. Wir neigen zur Überhöhung unserer eigenen Gruppe und laufen immer Gefahr uns durch Ideologien blenden und manipulieren zu lassen.

The Message

Reihen Sie sich ein in eine ehrwürdige Tradition und machen Sie sich auf die Reise ins Heilige Land.  Spätestens seit Hape Kerkeling den Jakobsweg beschritten hat, sind Reisen in den Fußstapfen der Pilger populär in Deutschland.  Es könnte die wichtigste Reise Ihres Lebens werden und Ihren Blick auf die Welt verändern, so wie es der Besuch in Ost-Jerusalem und den besetzten Gebieten für den afro-amerikanischen Autor T. Coates getan hat.

In seinem Buch „The Message“ schreibt er: „So sicher wie meine Vorfahren in ein Land hineingeboren wurden, in dem keiner von ihnen einem Weißen gleichgestellt  war,  so sicher erwies sich Israel als ein Land, in dem kein Palästinenser jemals einem Juden gleichgestellt war.“  Ich hoffe, „Reise ins Heilige Land“ inspiriert Sie dazu, sich selbst ein Bild machen zu wollen.

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