Tel Aviv
19.2.2024
Shlomos graue Haare fallen in den Nacken, er trägt seine Lesebrille an einer Kette um den Hals. Er saß mit anderen Stammgästen an einem Außentisch des russischen Restaurants gegenüber meinem Hotel in Tel Aviv. Er hat sich zu mir an den Tisch gesetzt, nachdem er erfahren hat, dass ich Deutscher bin. Es ist ein schöner, warmer Abend, eine angenehme Abwechslung zu der Kälte, die mich empfing, als ich mich am Morgen von Düsseldorf aus auf den Weg zum Amsterdamer Flughafen machte. Es ist der erste Tag meiner ersten Reise nach Israel.
Shlomo kommt ursprünglich aus Russland und war Profiboxer. Er ist ein selbstbewusster, aufgeschlossener Typ und wie alle Israelis, mit denen ich in Kontakt komme, scheint er keine Ressentiments gegen Deutsche zu hegen, im Gegenteil. Nachdem er seine aktive Laufbahn beendet hat, war er einer der Trainer der israelischen Boxerin Hagar Shmoulefeld Finer, die 2007 einen Weltmeisterschaftskampf gegen Regina Halmich in Karlsruhe verlor. Shlomo zeigt mir ein kurzes Video des Kampfes auf seinem Handy.
Danach unterhalten wir uns noch ein paar Minuten.Er erzählt mir, dass in dem Hotel, in dem ich die ersten beiden Nächte in Israel verbringen werde, immer noch Familien unterkommen, die nach dem Angriff der Hamas am 7.10.2023 evakuiert worden sind. Ich verabschiede mich von ihm und gehe auf mein Hotelzimmer. Die Begegnung mit Shlomo wird die erste von vielen Begegnungen mit Israelis während dieser Reise sein. Gerade weil diese Begegnungen so angenehm, freundlich und harmlos sind, wirken sie häufig surreal und befremdlich.
Die Reduktion auf Gruppenzugehörigkeit
Ich weiß, dass eine große Mehrheit der jüdischen Israelis das Gemetzel im Gazastreifen unterstützt. Moralische Empörung ist ein gefährliches Gefühl und wird leicht zu selbstgerechtem Zorn, der überheblich und manipulierbar macht. Ich denke häufig an den Satz, den ich Norman Finkelstein, Sohn Holocaustüberlebender und Autor des Buches „Gaza – Untersuchung einer Leidensgeschichte“ in einem Interview habe sagen hören: „Ich bin nicht auf der Seite der Palästinenser; ich bin nicht auf der Seite der Israelis. Ich bin auf der Seite von Wahrheit und Gerechtigkeit.“
Ich kann ihm nur zustimmen. Stammesdenken, die Reduktion von Individuen auf ihre Gruppenzugehörigkeit und blinde Loyalität perpetuieren das Problem. Der Konflikt in Palästina ist kein Fußballspiel. Es geht nicht darum, sich eine der beiden Flaggen ins Wohnzimmer zu hängen. Es geht darum, sich den Idealen von Wahrheit und Gerechtigkeit anzunähern und sich von seinen tribalen Instinkten zu distanzieren.
Die Empörung kontrollieren
Das war die größte Herausforderung während meines Aufenthalts in Israel und es ist die große Herausforderung beim Verfassen dieses Textes. Es ist anstrengend, aber möglich, seine moralische Empörung in Schach zu halten und sich nicht von Gefühlen, sondern vom Verstand leiten zu lassen und sich den Tatsachen zu stellen.
Ich nutze jedem zugängliche Orte wie das „Eretz Israel“- und das „Palmach“-Museum als Ankerpunkte, um die Analyse konkreter und besser verständlich zu machen. So hat auch jeder Leser die Möglichkeit, meine Beschreibung selbst zu überprüfen. Die Entscheidung, den Fokus auf den Zionismus zu legen, habe ich getroffen, weil in Deutschland zu wenig darüber berichtet wird und weil die von der zionistischen Ideologie geleitete israelische Regierung dabei ist, einen Völkermord zu begehen.
Das bedeutet nicht, dass ich die Existenz des palästinensischen Nationalismus abstreite oder die terroristischen Taktiken des palästinensischen Widerstands verherrliche. Ich kann mir nicht vorstellen, solche Taten zu begehen. Ich kann mir allerdings auch nicht vorstellen, gewaltsam aus meiner Heimat vertrieben worden zu sein und mein gesamtes Leben von den Tätern als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden.
Ich kann mir nicht vorstellen, als Neunjähriger Zeuge der willkürlichen Exekution meines Onkels durch die israelische Armee geworden zu sein wie „Hamas“-Mitgründer Abdel Aziz al-Rantisi. Ich kann mir nicht vorstellen, mein Leben in einem Flüchtlingslager verbringen zu müssen und immer wieder Opfer von Luftangriffen der Armee der Besatzungsmacht zu werden, wie es den Palästinensern in Gaza in regelmäßigen Abständen widerfährt.
Die israelische Luftwaffe hat den Gazastreifen 2008, 2012 und 2014 bombardiert. Zwischen 2008 und 2014 wurden bei Raketen- und Mörserangriffen aus Gaza 44 Menschen in Israel getötet, darunter 30 Zivilisten und 14 Soldaten. Die israelische Operation „Protective Edge“ im Jahr 2014 hat laut UNRWA über 2000 Palästinenser das Leben gekostet. Die Israelis haben eine Bezeichnung für diese Strafexpeditionen. Sie nennen sie: „Den Rasen mähen.“
Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, so viel Leid und Ungerechtigkeit ertragen zu müssen, aber ich bin mir sicher, dass die meisten Menschen, die solche Erfahrungen machen müssen, sich nicht dafür entscheiden werden, die andere Wange hinzuhalten. Unterdrückung erzeugt Widerstand. Welcher Religion die Opfer angehören, spielt dabei keine Rolle.
Das Ideal der Objektivität
Ein wichtiger Schritt, um sich dem Ideal der Objektivität anzunähern, ist eine klare, möglichst neutrale Definition des Begriffs „Terrorismus“ einzuführen. Die akademische Diskussion über die Definition von Terrorismus ist umfangreich und es ist der Wissenschaft bisher nicht gelungen, zu einer allgemein akzeptierten Definition des Begriffs zu gelangen. Ein Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags konstatiert folgendes: „Eine allgemein gültige und akzeptierte Definition des Terrorismus lässt sich nicht finden. Darüber existieren unterschiedliche Sichtweisen. Insbesondere ist die Grenze zwischen den Begriffen Terrorismus und Freiheitskampf oft fließend.“ ²
Ich werde in diesem Essay die klare, leicht zu verstehende Definition des „Cambridge Dictionary“ verwenden: „Die Anwendung von Gewalt für politische Zwecke“. Nach dieser Logik ist Terrorismus eine Taktik, um ein Ziel zu erreichen, zu dessen Erreichung auch gewaltlose Mittel zum Einsatz kommen können.
Seinen Ursprung hat der Begriff in Russland. Die ersten modernen Terroristen waren russische Anarchisten, die sich mit Gewalt gegen die brutale Unterdrückung der Zarenherrschaft wehrten. Die Geschichte des Prozesses der russischen Terroristin Vera Zasulich veranschaulicht, dass der Begriff „Terrorist“ nicht immer negativ konnotiert gewesen ist.
Am 24. Januar 1878 schoss Vera Zasulich auf General Fjodor Trepow, den Gouverneur von St. Petersburg, als Vergeltung für seine Folterung der vielen politischen Gefangenen des Zarenregimes. Trepow wurde bei dem Angriff verwundet, während Zasulich verhaftet und vor Gericht gestellt wurde. Auf die Frage, warum sie nicht noch einmal geschossen und die Sache zu Ende gebracht habe, antwortete sie: „Ich bin eine Terroristin, keine Mörderin!“ Vera Zasulich wurde, nachdem sie sich stolz als Terroristin bezeichnet hatte, zur Freude eines Großteils der russischen Gesellschaft vom Gericht in Sankt Petersburg freigesprochen.
Sich dem Ideal von Objektivität anzunähern, bedeutet auch anzuerkennen, dass eine ganze Reihe politischer Bewegungen terroristische Taktiken genutzt hat, unter anderem der ANC Nelson Mandelas, die französische Resistance, die Befreiungsbewegungen in Irland und Algerien und die Zionisten in Palästina.Die Anwendung terroristischer Taktiken kann erfolgreich sein, es lässt sich zum Beispiel argumentieren, dass der Anschlag der zionistischen Terrorgruppe „Irgun“ auf das britische Hauptquartier im „King David“ Hotel in Jerusalem die Briten zu einem schnelleren Abzug aus Palästina bewogen und die Gründung des Staates zu einem günstigen Zeitpunkt ermöglicht hat. Bei dem Anschlag im Juli 1946 wurden mehr als 90 Menschen getötet.
Ähnlich wie der Zionismus ist der palästinensische Nationalismus durch verschiedene Phasen gegangen. Die religiöse Komponente stand nicht immer im Vordergrund; die Ideologie der „Fatah“, der einflussreichsten palästinensischen Widerstandsorganisation der 60er und 70er Jahre, war ein säkularer Nationalismus und die von den christlichen Palästinensern gegründete „Popular Front for the Liberation of Palestine“ (PFLP) definiert sich explizit als marxistisch-leninistisch Prinzipien verpflichtete Organisation.
Die aktuelle Unterstützung für die „Hamas“ in Gaza spiegelt demnach keine leidenschaftliche Begeisterung der Bevölkerung für eine islamische Theokratie wider, sondern erklärt sich aus dem Scheitern ihrer säkularen Vorgänger.
Die Pflicht, sich den Tatsachen zu stellen
Der Zionismus und der palästinensische Nationalismus haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie sind, zumindest zum Teil, als Reaktionen auf erlittene Ungerechtigkeiten entstanden. Der Zionismus entstand als Reaktion auf die antisemitischen Pogrome in Russland im späten neunzehnten Jahrhundert, der palästinensische Nationalismus entstand als Reaktion auf die britische Herrschaft in Palästina und das zionistische Kolonialprojekt.
In Gaza und dem Westjordanland steht eine technologisch hochgerüstete Besatzungsarmee, finanziert und unterstützt von den USA, dem reichsten und mächtigsten Staat in der Geschichte der Menschheit, einer Guerillagruppe gegenüber, die über keine schweren Waffen verfügt. Unterstützt wird diese Guerrillagruppe vom Iran, einer regionalen Macht, die bislang noch keine Atomwaffen besitzt und daher nur über begrenztes Abschreckungspotential verfügt. In Washington fordern bizarre, aber hochrangige und einflussreiche Figuren wie der republikanische Senator Lindsay Graham schon seit Jahren, die USA solle Netanjahus Willen tun und den Iran „unschädlich“ machen.
Der Iran, die regionale Macht, wird von der amerikanischen Supermacht und Israel, ihrem Satelliten im Nahen Osten, unterstellt, sie wolle die Welt regieren und der Menschheit die Scharia aufzwingen. Das klingt wie der Plot eines schlechten James-Bond-Films und ist doch eine Geschichte, die viele überzeugt, besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Hamas ist eine Bewegung, die ähnlich wie der „ANC“, der „African National Congress“ Nelson Mandelas, sowohl über eine zivile als auch eine militärische Komponente verfügt. Die „Qassam Brigaden“, der militärische Arm der Hamas, ist eine lokal operierende Guerillatruppe.
Hier eine Beschreibung aus einem Bericht für das australische Parlament; die australische Regierung steht fest an der Seite Israels und ist keiner Sympathie für die „Hamas“ verdächtig: „Als militärischer Arm der Hamas sind die Ziele der Brigaden den allgemeinen politischen Zielen der Hamas untergeordnet. Ihr wesentliches Ziel ist die Vereinigung Israels und der palästinensischen Gebiete unter islamischer Herrschaft – ein Ziel, das die Zerstörung Israels als politische Einheit mit sich bringt.Aufgrund des Ungleichgewichts zwischen den militärischen Ressourcen Israels und der Hamas setzen die Brigaden terroristische Taktiken ein, um Israel zu besiegen.
Am bekanntesten sind ihre Selbstmordattentate, die sie als „F-16“ des palästinensischen Volkes bezeichnen. Die Brigaden haben nie die Absicht erkennen lassen, Anschläge außerhalb Israels und der palästinensischen Gebiete durchzuführen oder andere Länder als Israel ins Visier zu nehmen. ³
Der Islam erfüllt für die „al-Qassam“-Guerillas die Funktion eines legitimierenden Mythos, ähnlich wie es der Marxismus für die vietnamesischen Revolutionäre getan hat und wie es das Judentum für die Zionisten tut – allerdings mit dem Unterschied, dass die Hamas-Kämpfer im Gegensatz zur zionistischen Führungselite aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich an Gott glauben. Die Unterstellung, dass die Hamas eine global agierende Terrorgruppe im Stil von ISIS sei, ist absurd.
Es handelt sich um eine groteske Karikatur, eine Mischung aus der Bilderwelt der „MAD“-Hefte und der des Nazi-Propagandamagazins „Stürmer“. Diese groteske Karikatur sollte leicht durchschaubar sein, doch ihre Absurdität fällt im aktuellen Klima der Verengung des Diskurses auf eine Schlacht zwischen Gut und Böse nicht auf. Das sind die Tatsachen, denen sich jeder stellen muss, der einen ernsthaften Versuch unternimmt, das Problem zu verstehen.
Jeder kann sich ein Urteil bilden
Ich bin nach Israel gereist, um die Recherche abzuschließen. Ich möchte verstehen, warum die Mehrheit der israelischen Bevölkerung das Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung unterstützt und wie es möglich ist, dass die Befreiung der Geiseln durch einen Gefangenenaustausch nicht die erste Priorität der Regierung ist. Laut einer Umfrage halten 39 % der Israelis das militärische Vorgehen in Gaza für angemessen, während 34 % sagen, dass es nicht weit genug gehe.
Die Reise ins Heilige Land ist die seltsamste Reise meines Lebens: Es ist ein kurzer Städtetrip, zwei Städte in sechs Tagen. Ein Trip, wie ich ihn schon viele Male unternommen habe. Es geht um praktische, triviale Dinge: Das Wetter, Restaurants, Hotelpreise/Lage, Transport, Sehenswürdigkeiten, Öffnungszeiten von Museen usw. Gleichzeitig ist es eine Reise in ein Land, dessen Armee gerade mit der Unterstützung des Großteils seiner Bevölkerung einen Völkermord begeht.
Dabei wird die israelische Regierung von der deutschen Regierung unterstützt, mit Waffen, Munition und diplomatischer Schützenhilfe. Ich bin nicht unvoreingenommen und objektiv – niemand kann das sein. Unvoreingenommenheit und Objektivität sind Ideale, denen ich mich nur annähern kann. Ich kann nur den Versuch machen, mir meiner Voreingenommenheit zugunsten der Schwächeren, zugunsten der Opfer der längsten Besatzung in der modernen Geschichte bewusst zu werden, um mich nicht allein von Gefühlen leiten zu lassen, sondern meine Haltung kritisch zu reflektieren.
Die entscheidende Voraussetzung für den Versuch, sich dem Ideal der Objektivität anzunähern, ist es, klar zwischen persönlicher Sympathie und rationaler Analyse zu unterscheiden. Mir persönlich sind zum Beispiel alle monotheistischen Religionen zutiefst suspekt, und ich bin nicht der Ansicht, dass der Islam eine Religion des Friedens ist, obwohl sich derartige Passagen im Koran finden lassen.
Ich halte jedoch die Bedeutung religiöser und ideologischer Konstrukte als Motivatoren für menschliches Verhalten generell für überschätzt. Die kognitiven Fähigkeiten des Menschen – also die Einbildungskraft und das logische Denken – sind allein nicht handlungsmotivierend. Emotionen bestimmen, dass etwas getan wird; der Verstand bestimmt, wie es getan wird. Ideologische Konstrukte sind nicht ursächlich für menschliches Verhalten, aber sie können mehr oder weniger schädlich sein. Sie können die destruktiven Tendenzen des Menschen entweder in Schach halten oder verstärken.
Da Menschen offenbar aus evolutionären Gründen dazu neigen, die eigene Gruppe zu idealisieren und andere Gruppen zu dämonisieren, sind verherrlichende, nationalistische Ideologien wie der Zionismus besonders gefährlich. Ein Beispiel: Die Vietnamesen haben keinen Befreiungskrieg geführt, weil ihnen Bücher von Marx und Lenin in die Hände gefallen sind. Sie haben sich gegen die Ungerechtigkeit der Kolonisierung gewehrt und unter anderem die marxistische Ideologie als legitimierenden Mythos genutzt.
Sie haben sich auch auf die amerikanische „Declaration of Independence“ bezogen und sie in der vietnamesischen Unabhängigkeitserklärung von 1945 sogar wörtlich zitiert. Es ging beim Vietnamkrieg nicht um einen Wettbewerb zweier Ideologien, sondern um Stolz, Vergeltung, Selbstbestimmung und Macht.
Das gilt für die Situation in Palästina ganz genauso. Der Versuch, das Problem als Auseinandersetzung zwischen zwei Religionen zu definieren, ist besonders in diesem Fall absurd, weil es sich beim modernen Zionismus nicht um eine religiöse Strömung des Judentums handelt, sondern um einen im 19. Jahrhundert entstandenen utopischen Nationalismus, der als Reaktion auf erniedrigende Erlebnisse seiner Vordenker entstanden ist.
Es ist anstrengend, sich dem Ideal der Objektivität anzunähern, während das Gemetzel, das als Rache für den 7. Oktober begann, schon seit mehr als einem halben Jahr vor den Augen der Welt stattfindet. Niemand bestreitet, dass ein Massenmord gigantischen Ausmaßes stattfindet, die israelische Armee mit Panzern und der Luftwaffe gegen die Zivilbevölkerung vorgeht und dabei systematisch Häuser, Schulen, Universitäten und Krankenhäuser zerstört.
Einen Panzer in die Garage stellen
Vereinfacht zusammengefasst lassen sich in Deutschland zwei Lager beobachten: Das Lager derer, die das Gemetzel als Reaktion auf den 7. Oktober als gerechtfertigt empfinden, weil sein Opfer barbarische Terroristen und ihre Sympathisanten sind, Frauen und Kinder inklusive.
Die Reaktion eines deutschen Probelesers auf einen Entwurf meines Essays bringt die Haltung dieses Lagers deutlich zum Ausdruck: „Wäre ich Israeli, würde ich jedenfalls an das ‚Live and Let Live‘-Versprechen nicht glauben, sondern meine M16 in der Hand behalten und nach dem 7. Oktober 2023 (dem Tag, an dem die Palästinenser einen Massenmord an Israelis verübt haben) hätte ich wahrscheinlich nicht nur eine M16, sondern zehn und zusätzlich noch einen Panzer in der Garage stehen.“
Der Probeleser verfasste diesen Kommentar, nachdem er über 20 Seiten gelesen hatte, auf denen ich beschreibe, was die Hintergründe der Attacke vom 7.10.2023 sind und aus denen klar werden müsste, dass es absurd ist zu behaupten, es sei ein unprovoziertes, rein antisemitisch motiviertes Pogrom gewesen. Jemand wie dieser Probeleser mit rationalen Argumenten zu erreichen, ist offensichtlich nicht möglich.
Kognitive Blockade
Ideologische Verblendung, gespeist von starken Emotionen und der über viele Jahre verinnerlichten Dehumanisierung von Arabern und Muslimen, macht offensichtlich blind und aufnahmeunfähig für Fakten, deren Anerkennung es notwendig machen würde, das eigene Weltbild zu hinterfragen. Das dichotomische Denken, die Unterteilung der Welt in „Good Guys“ und „Bad Guys“, die gute eigene und die böse fremde Gruppe, verursacht eine Art kognitive Behinderung.
Ähnlich wie auf individueller Ebene die grandiose Selbstüberschätzung einer Narzisstin dafür sorgt, dass sie ständig auf der Suche nach Bestätigung für ihr fragiles Luftschloss ist und ihre Realitätsprüfung nicht funktioniert, bereitet die kollektive Illusion moralischer Überlegenheit anscheinend den Boden für eine von Ressentiment geprägte Haltung, die sich aktiv gegen die Anerkennung der Menschlichkeit des Anderen wehrt und sich lieber „noch einen Panzer in die Garage stellt“.
Ich habe die Hoffnung, das andere Lager zu erreichen: die Deutschen, die sich der Dehumanisierung der Palästinenser verweigern, die sich ihre Menschlichkeit erhalten und intuitiv wissen, dass das, was in Gaza geschieht, ein Jahrhundertverbrechen ist.
Opfer als Teil der Abstraktion
Zum Zeitpunkt meiner Ankunft in Tel Aviv, im Februar 2024, sind der israelischen Vergeltungskampagne über 30.000 Palästinenser zum Opfer gefallen, mehr als die Hälfte von ihnen Frauen und Kinder, weitere 70.000 wurden verletzt und niemand weiß, wie viele Leichen noch unter den Trümmern begraben sind.30.000 Tote, 70.000 Verletzte – das sind entsetzliche Zahlen, aber gerade diese Konzentration auf Zahlen statt auf Einzelschicksale bei der Berichterstattung über Palästinenser ist Teil des Problems.
Besonders deutlich wird dieser Kontrast bei der Berichterstattung über den 7. Oktober und den darauffolgenden Völkermord.Die palästinensische Intellektuelle und Aktivistin Hanan Ashrawi drückt es so aus: „Nehmen wir zum Beispiel einen israelischen Soldaten, der sich auf palästinensischem Gebiet befindet, Palästinenser erschießt und danach verletzt oder getötet wird. Sofort wird einem die ganze Tragweite seiner Menschlichkeit bewusst. Man geht zu seiner Beerdigung und sieht seine trauernde Mutter, Frau oder sein Kind. Man erfährt seinen Namen, seine Hoffnungen, seine Träume, woher er kam und so weiter.Gleichzeitig wurden Hunderte und Tausende Palästinenser getötet. Und man erfährt nie ihren Namen. Man sieht nie eine Beerdigung.
Man bekommt die Trauer der Familie nicht mit. Man weiß nicht, dass diese Kinder, wahrscheinlich viele von ihnen, in ihren eigenen Häusern und Hinterhöfen oder auf dem Weg zur Schule erschossen wurden. Es spielt keine Rolle. Sie werden Teil der Abstraktion. Man weiß: ‚400 getötete Palästinenser‘, das war’s, es ist eine Zahl.“
Das Zitat stammt aus dem Transkript einer Podiumsdiskussion in den USA aus dem Jahr 2004. Nichts hat sich seitdem geändert, nur die Zahlen der Toten und Verwundeten sind immer weiter gestiegen.
Die Geschichte von Hind
Um diesem Effekt entgegenzuwirken und den palästinensischen Opfern ein Gesicht zu geben, erzähle ich hier die Geschichte des palästinensischen Mädchens Hind Rajab und ihrer Familie, stellvertretend für die vielen tausend von der israelischen Armee ermordeten palästinensischen Kinder. Im Januar 2024 versuchte die fünfjährige Hind mit ihrer Familie, dem Grauen zu entkommen. Ihre Flucht aus Gaza City endete abrupt, als ein israelischer Panzer ihr Fahrzeug unter Beschuss nahm. Hinds Tante, Onkel und drei Cousins wurden sofort getötet; nur Hind und ihre 15-jährige Cousine Layan Hamadeh überlebten den ersten Angriff.
Verängstigt und verletzt griff Layan zum Telefon und kontaktierte die Palästinensische Rote Halbmond-Gesellschaft (PRCS). „Sie schießen auf uns. Der Panzer ist direkt neben uns“, berichtete sie unter Tränen. Während des Anrufs wurde Layan von weiteren Schüssen getroffen und starb. Hind, nun allein, nahm den Hörer und flehte: „Ich habe solche Angst, bitte kommt. Holt mich hier raus.“ Drei Stunden lang blieb sie in dem zerstörten Fahrzeug, während die PRCS verzweifelt versuchte, eine sichere Rettung zu organisieren.
Hind Rajab
Trotz intensiver Bemühungen und Koordination mit israelischen Behörden wurde das Rettungsteam der PRCS beim Versuch, Hind zu erreichen, selbst zum Ziel. Zwölf Tage später, nach dem Rückzug der israelischen Truppen, fand Hinds Familie das Fahrzeug. Die Fenster waren zerschmettert, die Karosserie von Kugeln durchsiebt. Hind lag tot neben ihren Verwandten. In unmittelbarer Nähe entdeckten sie den zerstörten Krankenwagen; die beiden Sanitäter, Yusuf al-Zeino und Ahmed al-Madhoun, waren ebenfalls getötet worden. Hind hatte auch mit ihrem Cousin Mohammed Hamada telefoniert, während sie auf ihre Rettung wartete.
Der 28-Jährige schilderte das Telefonat im Interview mit dem „Guardian“: „Hind sagte: ‚Bitte helft mir. Bitte kommt und rettet uns. Rettet mich.‘ Sie sagte mir, dass sie am Bein verletzt sei. Ich habe geweint, weil ich nichts tun konnte, und ich glaube, meine ganze Familie war in der gleichen Situation. Meine Frau sagte zu ihr: „Schatz, hab keine Angst, Gott liebt dich und er wird sich um dich kümmern.“ Und sie antwortete nur mit „OK“. Ich glaube, Hind war mutiger als wir alle zusammen.“
Die Intervention Südafrikas
Zu dem Zeitpunkt meiner Ankunft in Tel Aviv ist das Dokument, das Südafrika beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht hat, der Öffentlichkeit zugänglich. Dass gerade die südafrikanische Regierung sich entschieden hat, Israel des Völkermords zu bezichtigen, ist von besonderer Bedeutung: Die beiden Länder waren lange Verbündete. Israel unterhielt während der Apartheid-Ära enge, jedoch diskrete Beziehungen zu Südafrika. Zwischen den beiden Staaten gab es intensive militärische Zusammenarbeit und eine Vielzahl wirtschaftlicher Verbindungen.
Das Problem bei der Beweisführung eines Völkermords ist, dass die Intention der Täter bewiesen werden muss. Auch im Fall des von Israel verübten Völkermordes im Gazastreifen fehlt bisher der letzte schriftliche Beweis, der eindeutige Befehl zum Völkermord. Trotzdem ist die Beweisführung für Völkermord möglich. Der Nachweis von Völkermord ohne explizite schriftliche Befehle basiert auf der sorgfältigen Sammlung von Zeugenaussagen, forensischen Beweisen und materiellen Indizien.
Im Fall Srebrenica, beispielsweise, analysierte das Internationale Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) die gezielte Ermordung von über 8.000 bosnischen Muslimen. Neben Zeugenaussagen und forensischen Untersuchungen von Massengräbern stützte sich das Gericht auf abgefangene Kommunikation und militärische Dokumente, um den Vorsatz der Täter zu belegen.In „Prosecutor v. Radislav Krstić“ wurde General Krstić wegen Beihilfe zum Völkermord verurteilt, wobei die systematische Natur der Verbrechen und die gezielte Auslöschung einer Gruppe den Nachweis des Genozids ermöglichten.
Diese Beispiele zeigen, dass Völkermord auch ohne direkte schriftliche Beweise durch umfassende Beweisketten nachgewiesen werden kann. Der Völkermord von Srebrenica geschah 1995. General Krstić wurde 1998 verhaftet und 2000 angeklagt. Diese Prozesse sind zeitaufwendig und die palästinensischen Zivilisten in Gaza haben keine Zeit. Was jetzt schon vorliegt sind Aussagen von israelischen Entscheidungsträgern, die klar und eindeutig die Absicht zum Ausdruck bringen, eine kollektive Bestrafung vorzunehmen und die Bevölkerung Gazas auszuhungern.
Hier einige Auszüge aus der Petition Südafrikas: In einer Ansprache vor der Knesset, dem israelischen Parlament am 16. Oktober 2023 beschrieb Benjamin Netanyahu die Situation, als „einen Kampf zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis, zwischen Menschlichkeit und dem Gesetz des Dschungels.“
Der israelische Premierminister kam in seiner Weihnachtsbotschaft auf das Thema zurück und erklärte: „Wir haben es mit Monstern zu tun, Monstern, die Kinder vor den Augen ihrer Eltern ermordet haben. Dies ist nicht nur ein Kampf Israels gegen diese Barbaren, es ist ein Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei“.
Verschont niemanden
Am 28. Oktober 2023, als die israelischen Streitkräfte ihre Landinvasion des Gazastreifens vorbereiteten, berief sich der Premierminister auf die biblische Geschichte der totalen Vernichtung der Amalekiter durch die Israeliten, indem er erklärte: „Ihr müsst daran denken, was die Amalekiter euch angetan haben, sagt unsere Heilige Bibel. Und wir erinnern uns“. Der Premierminister bezog sich erneut auf die Amalekiter, in dem Brief der am 3. November 2023 an die israelischen Soldaten und Offiziere geschickt wurde. Die entsprechende Bibelstelle lautet: „Nun geht, greift Amalek an und verbannt alles, was ihm gehört. Verschont niemanden, sondern tötet Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel“.
Am 12. Oktober 2023 stellte Präsident Isaac Herzog klar, dass Israel nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten in Gaza unterscheide, und erklärte in einer Pressekonferenz vor ausländischen Medien – in Bezug auf die Palästinenser in Gaza, von denen mehr als eine Million Kinder sind: „Es ist eine ganze Nation da draußen, die verantwortlich ist. Es ist nicht wahr, dass die Zivilisten nichts davon wissen und nicht involviert sind. Es ist absolut nicht wahr. … und wir werden kämpfen, bis wir ihnen das Rückgrat brechen.“
Am 9. Oktober 2023 teilte der Verteidigungsminister Yoav Gallant in einem Lagebericht der israelischen Armee mit, dass Israel „eine vollständige Belagerung des Gazastreifens verhängt hat. Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und dementsprechend verhalten wir uns.“ Er teilte den Truppen an der Grenze zum Gazastreifen auch mit, dass er „alle Beschränkungen aufgehoben“ habe.
Zitat: „Der Gazastreifen wird nicht zu dem zurückkehren, was er vorher war. Wir werden alles eliminieren. Wenn es nicht einen Tag dauert, wird es eine Woche dauern. Es wird Wochen oder sogar Monate dauern, aber wir werden jeden Ort erreichen.“
Auch wenn Tausende von Leichen auf der Straße liegen
Giora Eiland, Generalmajor der israelischen Armee, ehemaliger Leiter des israelischen Nationalen Sicherheitsrates und Berater des Verteidigungsministers, hat wiederholt in den Medien dazu aufgerufen, den Gazastreifen unbewohnbar zu machen.
In einem Interview vom 6. November 2023 sagte er: „wenn eine Militäraktion gegen das Al Shifa Krankenhaus beabsichtigt ist, was meiner Meinung nach unausweichlich ist, hoffe ich, dass der Chef der CIA eine Erklärung dafür bekommen hat, warum dies notwendig ist und warum die USA letztlich sogar eine solche Operation unterstützen müssen, auch wenn danach Tausende von Leichen in den Straßen liegen.“Weiter schlug er vor, dass „Israel eine humanitäre Krise in Gaza auslösen muss, die Zehntausende oder sogar Hunderttausende dazu zwingt, Zuflucht in Ägypten oder am Golf zu suchen… Der Gazastreifen wird ein Ort werden, an dem kein menschliches Wesen leben kann.“
In Anlehnung an die Worte von Präsident Herzog hat er wiederholt betont, dass es keinen Unterschied zwischen Hamas-Kämpfern und palästinensischen Zivilisten geben dürfe. Zitat: „Wer sind die ‚armen‘ Frauen von Gaza? Sie sind alle Mütter, Schwestern oder Ehefrauen von Hamas Mördern. Einerseits sind sie Teil der Infrastruktur, die die Organisation unterstützt, und andererseits, wenn sie eine humanitäre Katastrophe erleben, dann kann davon ausgegangen werden, dass einige der Hamas-Kämpfer und die jüngeren Kommandeure beginnen zu verstehen, dass der Krieg aussichtslos ist. … Die internationale Gemeinschaft warnt uns vor einer humanitären Katastrophe in Gaza und vor schweren Epidemien.
Davor dürfen wir nicht zurückschrecken, so schwierig das auch sein mag. Schließlich werden schwere Epidemien im Süden des Gazastreifens den Sieg näher bringen … Gerade ein ziviler Zusammenbruch wird das Ende des Krieges näherbringen. Wenn hochrangige israelische Persönlichkeiten in den Medien sagen ‚Entweder wir oder sie‘, sollten wir die Frage klären, wer ’sie‘ sind. ‚Sie‘ sind nicht nur die bewaffneten Hamas-Kämpfer, sondern auch alle ‚zivilen‘ Beamten, einschließlich Krankenhaus- und Schulverwalter und die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens, die Hamas unterstützt und ihre Gräueltaten am 7. Oktober bejubelt haben.“
Deutschland liefert Waffen und Munition
Israelische Soldaten in Uniform wurden am 5. Dezember 2023 gefilmt; sie tanzten und skandierten „Möge ihr Dorf brennen, möge Gaza ausgelöscht werden“. Zwei Tage später, am 7. Dezember 2023, tanzten, sangen und skandierten sie in Gaza: „Wir kennen unser Motto: Es gibt keine unbeteiligten Zivilisten!“Bis zu diesem Datum wurden 17.177 Palästinenser in Gaza getötet – schätzungsweise 70 Prozent davon waren Frauen und Kinder.
Der 7. und 8. Dezember 2023 war für die Palästinenser besonders verheerend: Innerhalb von 24 Stunden wurden 350 Menschen getötet – etwa alle vier Minuten fiel ein Palästinenser der israelischen Vergeltungskampagne zum Opfer. Alle Zahlen und Zitate entstammen der südafrikanischen Petition vor dem Internationalen Strafgerichtshof. 4
Dies sind, wie gesagt, nur Auszüge. Die Aussagen israelischer Politiker, Medienpersönlichkeiten und Soldaten, die keinen Zweifel an der Intention der israelischen Kampagne lassen, füllen sieben Seiten der südafrikanischen Petition. Die Repräsentanten einer Staatsregierung kündigen hier an, dass sie eine Kollektivbestrafung vornehmen und eine Zivilbevölkerung abschlachten wollen.
Es ist mir unverständlich, wie jemand, der auch nur den geringsten Versuch unternimmt, das 80 Seiten umfassende, genau recherchierte und mit Quellenangaben versehene Dokument der Südafrikaner unvoreingenommen zu lesen, zu einem anderen Schluss kommen kann.
Kollektivstrafen sind gemäß dem humanitären Völkerrecht verboten. Artikel 33 der Vierten Genfer Konvention von 1949 lautet: „Keine geschützte Person darf wegen einer Handlung bestraft werden, die sie nicht persönlich begangen hat.“
Solche Handlungen gelten als Kriegsverbrechen, da sie grundlegende Prinzipien von Gerechtigkeit und individuellem Schutz verletzen. Ob dieses Verbrechen zum jetzigen Zeitpunkt als Völkermord deklariert werden kann oder nicht, ist offensichtlich weniger relevant als die Tatsache, dass Tausende von Menschen, die schutzlos in eng besiedelten Flüchtlingslagern leben, von der Armee eines Staates während einer Kollektivbestrafungskampagne ermordet werden.
Es ist erstaunlich, dass diese Tatsache nicht ausreicht, um sich dagegen auszusprechen. Dass jetzt bei vielen die Frage im Vordergrund zu stehen scheint, ob es sich um einen Völkermord nach der engen Definition der Konvention handelt oder nicht, ist grotesk und verschafft den Tätern und ihren Unterstützern die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit von ihren Verbrechen auf eine Debatte unter Juristen zu verschieben.
Deutschland unterstützt die Vergeltungskampagne der Israelis, liefert Waffen und Munition, und Kanzler Scholz hat, während ich das schreibe, im August 2024 noch nicht einmal einen Waffenstillstand gefordert. Im Gegenteil, Deutschland hat von offizieller Seite erklärt, der „Völkermordvorwurf gegen Israel entbehre jeder Grundlage“ und stelle eine „politische Instrumentalisierung“ der UN-Völkermordkonvention dar.