Zionismus, Propaganda und die Lehren aus der deutschen Geschichte

Tel Aviv

20.2.2024

Das Hotel ist von Baustellen fast eingekesselt. In den Straßen, wie schon am Flughafen, hängen überall Poster mit Bildern der Geiseln. Ich hatte mir Tel Aviv anders vorgestellt, hatte mich zu sehr von dem Marketing als hypermoderne Start-up-Nation beeinflussen lassen und mir die Stadt als eine Art Singapur am Mittelmeer vorgestellt.
Tel Aviv hat ein leicht heruntergekommenes, chaotisches Küstenstadtflair und erinnert mich mehr an Neapel als an Singapur. Es gefällt mir besser, als ich dachte. Es sind keine Touristen in den Straßen, bevor ich den Mund aufmache, werde ich automatisch für einen Israeli gehalten. Abgesehen von den Postern ist in Tel Aviv nichts davon zu bemerken, dass nur wenige Kilometer entfernt ein Verbrechen entsetzlichen Ausmaßes geschieht.

24jährige Zivilistin in Geiselhaft der Hamas: Eden Yerushalmi

Der Plan trägt Früchte
Vor zwei Tagen, am 18.02.2024, haben hungrige, verzweifelte Palästinenser Lebensmittel-LKWs in Nord-Gaza gestürmt. Die israelische Armee eröffnete das Feuer, schoss in die Menschenmenge und tötete mindestens einen der Hungernden. Ein LKW-Fahrer wurde angegriffen, weswegen die Lieferungen vorerst ausgesetzt wurden – sie werden weiter hungern. Aus israelischer Sicht läuft alles nach Plan.

„Der Druck auf Gaza ist so groß, dass Gaza zu einem Gebiet wird, in dem die Menschen nicht leben können. Die Menschen können nicht leben, bis die Hamas zerstört ist. Das bedeutet, dass Israel nicht nur aufhört, Energie, Diesel, Wasser, Lebensmittel zu liefern, wie wir es in den letzten zwanzig Jahren getan haben, sondern wir sollten jede mögliche Unterstützung durch andere verhindern und in Gaza eine so schreckliche, unerträgliche Situation schaffen, die Wochen und Monate andauern kann.“ Genau diesen Plan hatte Giora Eiland in einem „Times Radio“-Interview am 12. Oktober 2023 formuliert. Jetzt, drei Monate später, trägt er Früchte.

Ich halte ein Taxi auf der Straße an, und wir fahren über eine Küstenstraße zu meinem ersten Stopp, dem israelischen Heimatkundemuseum. Das große, mehrere Gebäude umfassende Museum ist fast menschenleer, und während ich von Raum zu Raum gehe, wird mir zum ersten Mal klar, wie allumfassend das zionistische Propagandaprojekt ist. Das Museum wurde nicht mit der Intention gegründet, sich einer geschichtlichen Realität anzunähern.

Ziel des Museums ist es, eine Realität zu erschaffen, den Gründungsmythos des Staates Israel zu untermauern und die Anwesenheit der Palästinenser in „Eretz Israel“ auszublenden.

„Eretz Israel“ Museum Tel Aviv: Baustein eines monumentalen Propagandaprojekts

Laut dem Glossar der „Jüdischen Allgemeinen“ steht „Eretz Israel“ für das Land Israel und ist die biblische Bezeichnung für den Staat der Juden, beziehungsweise der Hebräer. Der Begriff wurde nach dem Beginn des politischen Zionismus im 19. Jahrhundert wieder aufgegriffen und wird auch im heutigen Staat Israel öfter verwendet.

Der politische Zionismus ist eine im späten 19. Jahrhundert entstandene nationalistische Bewegung, die das Ziel verfolgte, eine von europäischen Juden besiedelte Kolonie in Palästina zu etablieren. Palästina, 400 Jahre eine Provinz des Osmanischen Reiches, stand zu diesem Zeitpunkt unter der Verwaltung des Britischen Empires. Zu Beginn der britischen Herrschaft in Palästina im Jahr 1920 lebten dort etwa 700.000 Menschen. Die Bevölkerung setzte sich zusammen aus 560.000 muslimischen Palästinensern, 70.000 christlichen Palästinensern und 76.000 Juden.

Kleine Einführung in den modernen Zionismus

Begründer des modernen Zionismus war Theodor Herzl (1860–1904), ein österreichisch-ungarischer Journalist und Schriftsteller. Unter dem Eindruck des Antisemitismus, insbesondere antisemitischer Pogrome in Russland, entwickelte er die Vision eines jüdischen Staates. 1896 veröffentlichte er Der Judenstaat, in dem er die Gründung eines jüdischen Staates als Lösung der „Judenfrage“ propagierte. Ein Jahr später organisierte er den ersten Zionistenkongress in Basel und wurde zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation gewählt.

„Eretz Israel“ – der Name ist Programm und hat laut dem „Collins Dictionary“ noch eine zweite Bedeutung: „Das von einigen extremen Zionisten favorisierte Konzept eines jüdischen Staates, dessen Territorium der größten Ausdehnung des biblischen Israel entspricht.“

Das Grundsatzprogramm der aktuell regierenden Likud-Partei aus dem Jahr 1977 stellt unmissverständlich klar, was damit gemeint ist: „Das Recht des jüdischen Volkes auf das Land Israel ist ewig und unumstritten und ist mit dem Recht auf Sicherheit und Frieden verbunden; daher werden Judäa und Samaria (das Westjordanland) keiner ausländischen Verwaltung übergeben; zwischen dem Meer und dem Jordan wird es nur israelische Souveränität geben.“

Der „Jüdische Kultur- und Folklore“-Pavillon dokumentiert: „Die Entstehung des israelischen Nationalismus und der israelischen Kultur sowie die Veränderungen, die sie in dieser Zeit durchliefen. Diese kommen in der Gestaltung und der symbolischen Bedeutung der ‚Judaica‘-Objekte zum Ausdruck, die eine zentrale Rolle bei der Herausbildung der neuen israelisch-jüdischen Identität spielten.“

Auch der „Kadman Numismatische Pavillon“, die Münzsammlung, steht im Dienst der Erschaffung von Realität. Dort wird Folgendes berichtet: „Seit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 und bis zum heutigen Tag bringen seine Münzen die historische Verbindung zwischen dem wiedergeborenen Staat und dem alten numismatischen Erbe des jüdischen Volkes zum Ausdruck. Die Motive auf den modernen Münzen sind größtenteils alten jüdischen Münzen entnommen, ein weltweit einzigartiges Phänomen.“

Das biblische Versprechen

Das „Eretz Israel“-Museum ist Teil eines Projekts, das der israelische Psychologe B. Beit-Hallahmi so beschreibt: „Die Historisierung der Bibel ist in Israel ein nationales Projekt, das von Hunderten von Gelehrten an allen Universitäten durchgeführt wird. Das israelische Verteidigungsministerium hat sogar eine vollständige Chronologie der biblischen Ereignisse veröffentlicht, die genaue Daten für die Erschaffung der Welt, die Tötung Abels und den Auszug aus Ägypten enthält.“

Intellektuell redliche Wissenschaftler wie der israelisch-amerikanische Anthropologe Jeff Halper, die den Versuch unternommen haben, sich den Fakten zu stellen, sind zu diesen Schlüssen gekommen: „Obwohl die alten Israeliten und Judäer nur 1300 der 10.000 Jahre ihrer aufgezeichneten Geschichte über das Land herrschten (und ein Drittel davon unter babylonischer, griechischer oder römischer Hoheit stand), übertrumpfen die jüdischen Ansprüche im zionistischen Denken alle anderen, einschließlich der 1300 Jahre muslimischer Herrschaft.“ 

 Ze’ev Herzog, Professor für Archäologie an der Universität von Tel Aviv, sah sich 1999 mit einem Sturm der Entrüstung in Israel konfrontiert, als er zugestand, dass keine archäologischen Beweise für die Existenz einer antiken jüdischen Nation existieren: „Das haben Archäologen bei ihren Ausgrabungen im Land Israel herausgefunden: Die Israeliten waren nie in Ägypten, sind nicht durch die Wüste gewandert, haben das Land nicht in einem Feldzug erobert und es nicht an die 12 Stämme Israels weitergegeben. Noch schwerer zu verdauen ist vielleicht die Tatsache, dass die vereinte Monarchie Davids und Salomos, die in der Bibel als regionale Macht beschrieben wird, höchstens ein kleines Stammeskönigreich war.“

Keine religiöse Bewegung

Die israelische Zeitung Haaretz fasste den Stand der Forschung in dem Artikel „Wer sind die Juden“ aus dem Jahr 1999 so zusammen: „Tatsächlich deuten Herzogs Forschungen und die anderer Archäologen darauf hin, dass, wenn eine historische Einheit namens Israel kurzzeitig entstand, es sich um ein heidnisches Reich handelte und Jerusalem nicht dessen spirituelles Zentrum war. Herzog sagt über die Reaktion in Israel auf seine Erkenntnisse: ‚Jeder Versuch, die Zuverlässigkeit der biblischen Beschreibungen in Frage zu stellen, wird als Versuch wahrgenommen, ‚unser historisches Recht auf das Land‘ zu untergraben und den Mythos der Nation zu zerstören, die das alte Königreich Israel erneuert.‘“ 

So befremdlich die gesamte Debatte einer deutschen Öffentlichkeit, die sich in der Mehrheit schon lange von der Vorstellung verabschiedet hat, dass die Bibel eine präzise Beschreibung historischer Fakten sei, auch scheinen mag: In Israel ist sie nach wie vor relevant. Was die ganze Situation besonders absurd macht, ist die Tatsache, dass der Zionismus seinem Ursprung nach keine religiöse, sondern eine säkulare, nationalistische Bewegung ist.

Auch wenn es im Jahr 2024 so scheinen mag, als hätten Nationen schon immer existiert: Vor dem achtzehnten Jahrhundert gab es keine einzige Nation im heutigen Sinne. Nationen und Nationalstaaten sind moderne Phänomene, die häufig eine Rückkehr zu einer nur in der Phantasie der nationalistischen Ideologen existierenden glorreichen Vergangenheit simulieren.

Um den proklamierten Heroismus des „Neuen Menschen“ auch eine historische Scheinrechtfertigung zu geben, stellte beispielsweise der moderne italienische Nationalismus unter Mussolini sein Handeln in eine tausendjährige Geschichte und aktualisierte den Bezug zum römischen Imperium unter Augustus.

Die Symbole und Riten der Vergangenheit wurden von den Ideologen für Propagandazwecke geplündert. Ihrem Wesen nach waren nationalistische Bewegungen traditionsfeindlich und atheistisch. Ihr Ziel war die Erschaffung einer neuen Gesellschaft für neue Menschen; ihr Todfeind war die althergebrachte, gottgegebene Ordnung.

Aus diesem Grund wurde der Zionismus anfangs von der Mehrheit religiöser Juden abgelehnt. Ihrer Auffassung nach steht es nur Gott zu, das Exil der Juden zu beenden. Viele ultra-orthodoxe Juden, wie z.B. der US-amerikanische Rabbiner Yaakov Shapiro, stehen auch heute noch entschieden auf diesem Standpunkt und sehen die Bekämpfung des Zionismus als wichtigen Teil ihrer gottgegebenen Mission.

Shapiro, dessen leider nur auf Englisch verfügbares Buch „Der Leere Wagen“ für meine Recherche des Themas eine herausragende Bedeutung gespielt hat, gibt im Gegensatz zu dem widersprüchlichen Konstrukt der Zionisten eine klare und eindeutige Beschreibung seiner jüdischen Identität.

Wer ist Jude?

So schreibt Shapiro in der Einführung seines Buches: „Ich stamme aus einer Familie mit polnischen Wurzeln, ich bin Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika und ich spreche Englisch. Ich bin nicht mehr oder weniger jüdisch als ein jemenitischer Jude, ein französischer Jude oder ein chinesischer Jude, die Arabisch, Französisch oder Chinesisch sprechen. Herkunftsland, Sprache, Kultur und Nationalität spielen für meine jüdische Identität keine Rolle. Die ‚Am Yisroel‘ sind ein religiöses Kollektiv, kein nationales oder kulturelles.“

Ich werde im Laufe dieses Essays immer wieder auf dieses Thema und Shapiros Buch zurückkommen, weil ein Verständnis des Themas ohne die Unterscheidung zwischen Judentum und Zionismus unmöglich ist. Der Zionismus ist eine utopische nationalistische Ideologie, eine Umdefinition des Judentums von einer Religion zu einer Nation im modernen Sinne und gleichzeitig ein Kolonialprojekt, das anfangs bezüglich des Ortes, in dem der „Judenstaat“ errichtet werden sollte, flexibel war. Sowohl Uganda als auch Argentinien waren zu Anfang des Projekts Optionen, die für die frühen Zionisten ernsthaft in Betracht kamen.

Nur wer diesen Kontext kennt, ist in der Lage zu verstehen, wie bizarr Auftritte wie der des israelischen UN-Botschafters Danny Danon 2019 in New York tatsächlich sind. Danon, ein Mitglied der Likud-Partei, las während der Sitzung aus der Bibel vor, mit der Absicht, durch die Bibelpassagen zu beweisen, dass die Israelis das alleinige Recht hätten, in Palästina zu siedeln.

Die Likud-Partei, der auch Premierminister Netanjahu angehört, entstand aus einer atheistischen, ultra-nationalistischen Bewegung, den „Revisionisten“. Herzl, der Vater der Nation, war Atheist, so wie es auch der Großteil der israelischen Führungselite von Beginn an war und bis heute ist.

Die religiöse Komponente des Zionismus gewann erst spät an Bedeutung, insbesondere durch die Beiträge von Abraham Isaak Kook und die seines Sohnes, Zvi Yehuda Kook. Rabbi Kook, der erste europäischstämmige Großrabbiner Palästinas, integrierte religiöse und nationale Bestrebungen, indem er die zionistische Bewegung als Teil eines göttlichen Plans zur Erlösung des jüdischen Volkes interpretierte.

Er sah die Rückkehr nach „Eretz Israel“ als religiöse Pflicht und betrachtete die säkularen Zionisten als unbewusste Werkzeuge dieses göttlichen Plans. Sein Sohn entwickelte diese Ideen weiter und wurde zum Mentor der Siedlungsbewegung. Kook Junior betrachtete die Besiedlung der besetzten Gebiete nach dem Sechstagekrieg 1967 als zentrales religiöses Gebot und als entscheidenden Schritt im Prozess der Erlösung.

Helden der Nation

Im Museumsgeschäft erwecken Spielzeugfiguren, die historische Persönlichkeiten darstellen, mein Interesse: die „Nation’s Great Figures“-Serie. Eine der 8 Zentimeter großen Figuren ist eine Repräsentation von Avraham Stern. Stern wird vom Hersteller der Figuren, „Piece of History“, so beschrieben: „Untergrundkämpfer und Dichter, Gründer und erster Kommandant der Organisation Lehi (Israel Freiheitskämpfer).“

Nation’s Great Figure „Avraham Stern“: Des einen Terrorist ist des anderen poetischer Revolutionär

Dieser Propaganda-Logik folgend, könnte man auch Andreas Baader als poetischen Revolutionär und Untergrundkämpfer beschreiben. Die Bezeichnung „Terrorist“ ist allerdings für beide Männer zutreffender, mit der Differenzierung, dass Stern mehr Banken überfallen und mehr Menschen getötet hat.

Während die anderen beiden zionistischen Milizen, die „Irgun“ und die „Haganah“, sich während des Zweiten Weltkriegs dafür entschieden hatten, die Briten zu unterstützen, setzte die „Lehi“, auch als Stern Gang bekannt, ihre Terrorkampagne gegen Briten, Araber und „jüdische Kollaborateure“ fort.

Die Briten, die davon ausgingen, dass Sterns Tod das Ende der Gruppe bedeuten würde, erschossen Stern im Februar 1942 und verhafteten seine engsten Vertrauten, darunter auch Yitzhak Shamir, den späteren israelischen Ministerpräsidenten. Das Kalkül der Briten ging nicht auf, die „Lehi“ setzte ihre Mordserie fort.

Der Schlange den Kopf abzuschlagen, scheint kein probates Mittel zu sein, um Menschen zum Aufgeben zu bewegen, die davon überzeugt sind, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Auch die Israelis haben schon viele hochrangige PLO- und Hamas-Anführer getötet, ohne dieses Ziel zu erreichen.

Trotzdem verübt der israelische Staat immer wieder diese Attentate, wohl aus der Überzeugung heraus, dass die Gegenseite kontinuierlich „besiegt, gedemütigt und abgeschreckt“ werden muss, wie Dan Schueftan, Direktor des „National Security Studies Center“ an der Universität von Haifa, es 2016 in einem Arbeitspapier für die „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“ formuliert. ¹⁰

Ein prominentes und tragisches Opfer der „Lehi“ Terrorkampagne war der UN Vermittler Graf Bernadotte. Bernadotte, ein Mitglied der schwedischen Königsfamilie, war während des Zweiten Weltkriegs als Diplomat tätig und half bei der Befreiung von zehntausenden von Gefangenen, die in Nazi-Deutschland festgehalten wurden.

Am 17. September 1948 überfielen vier Lehi-Kämpfer Bernadottes Wagenkolonne im Jerusalemer Stadtteil Katamon und feuerten sechs Schüsse auf den UN-Vermittler und weitere 18 auf den französischen Offizier Oberst Andre Serot ab, der neben ihm saß. Serot war sofort tot, während Bernadotte in ein Krankenhaus gebracht wurde und kurz darauf starb. 

Warum musste Graf Bernadotte sterben? Der Grund war der „Bernadotte-Plan“, den er am 16. September 1948 der UN-Generalversammlung vorgelegt hatte. 

Bernadotte Attentat Zeitungsbericht

Dieser Plan bestätigte zwar die Existenz des Staates Israel, unterstützte jedoch auch nachdrücklich das palästinensische Rückkehrrecht. Er setzte sich dafür ein, dass die Palästinenser, die während der „Nakba“, der Katastrophe, von ihrem Land und ihren Besitztümern vertrieben worden waren, zurückkehren und diese zurückfordern konnten.

Für diejenigen, die nicht zurückkehrten, waren Repatriierung, Umsiedlung und finanzielle Entschädigung vorgesehen. Das konnten die Zionisten jedoch nicht akzeptieren. Sie strebten ein ethnisch gesäubertes „Eretz Israel“ an.

Yitzhak Shamir, zum Zeitpunkt der Ermordung Bernadottes Anführer der „Lehi“ und maßgeblich beteiligt am berüchtigten Massaker von Deir Yassin, bei dem über 100 palästinensische Zivilisten getötet wurden, war über viele Jahre eine einflussreiche Figur in der israelischen Politik und diente sowohl als Außenminister als auch als Premierminister. Seine Figur ist als Souvenir im Eretz-Israel-Museum erhältlich, ebenso wie die von Vladimir Jabotinsky, dem vielleicht einflussreichsten zionistischen Ideologen.

Jabotinsky, Gründer und Anführer der Revisionisten, ist ein gutes Beispiel für die Faszination, die besonders der italienische Faschismus auf die zionistischen Vordenker ausübte. Ein zentraler Bestandteil von Mussolinis Masterplan für ein neues Italien war ein großes volkspädagogisches Projekt: körperliche Ertüchtigung verbunden mit der Umformung des Bewusstseins, die Erziehung zum Kampf und die Akzeptanz von Gefahr. Das männliche Idealbild wurde in der Gestalt des Kriegers, des Legionärs, verkörpert.

Als Vergleich hierzu ein Zitat aus der von Jabotinsky verfasten Einleitung zu „Chaim Nachmann Bialik: Gedichte aus dem Hebräischen“ „Das (jüdische) Ghetto verachtete die körperliche Männlichkeit, das Prinzip der männlichen Macht, wie es von allen freien Menschen in der Geschichte verstanden und verehrt wurde.“

Vladimir „Zev“ Jabotinsky

Yaakov Shapiro fasst die zionistische Begeisterung für Macht und Gewalt so zusammen: „Sie sahen auf die Juden herab als ‚gebeugte, zerlumpte, deprimierte Gestalten, die ihr ganzes Vertrauen in die Psalmen von David ben Yishai setzten. Gleichzeitig bewunderten sie den großen, muskulösen, braungebrannten russischen Kosaken, dessen ganzer Glaube in seiner Fähigkeit zu schießen lag, oder den blonden, blauäugigen deutschen Arier, in dem sie die Eigenschaften von Schönheit, Stärke und Ehre sahen.'“

Antisemitismus als Symptom

Aber noch mehr als Schönheit, Stärke und Ehre sahen sie in den nichtjüdischen Völkern und ihrem Verhalten Formen der Normalität. Der kultivierte, ehrenhafte deutsche Intellektuelle, der starke, mutige russische Kosak – so sollte der Mensch sein, glaubten sie. Das war normal. Die Juden hingegen waren ein abnormales, kränkliches, psychisch beschädigtes und gebrochenes Volk.

Aus Shapiros Sicht stellt sich die Genese der zionistischen Ideologie so dar: „Die Zionisten schufen den Zionismus, um weit mehr zu tun, als nur auf den Antisemitismus zu reagieren. Die Existenz des Antisemitismus führte die Zionisten zu der Überzeugung, dass mit den Juden etwas nicht stimmte, das etwas ‚behoben‘ werden musste.

Wie ein Arzt, der Schmerzen als Symptom einer Krankheit erkennt, glaubten die Zionisten, dass die Existenz des Antisemitismus ein Symptom dafür war, dass mit dem Juden etwas nicht stimmt.“

Shapiro belegt diese These unter anderem mit einer weiteren Aussage Jabotinskys: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass ich Zionist bin, denn das jüdische Volk ist ein sehr fieses Volk, und seine Nachbarn hassen es, und sie haben Recht.“

Das Projekt der Erschaffung des neuen zionistischen Menschen fand im modernen Hebräisch seinen linguistischen Ausdruck. Yakov Rabkin, Professor Emeritus der Geschichtswissenschaft an der Universität von Montreal, schreibt in dem 2010 veröffentlichten Artikel „Sprache im Nationalismus: Das moderne Hebräisch im zionistischen Projekt“: „Jüdischer Selbsthass ist ein wesentlicher Bestandteil der zionistischen Ideologie. In diesem Fall wird er als ‚Verneinung der Diaspora‘ ausgedrückt und in seiner Umgangssprache, Jiddisch.
Das Wort ‚hebräisch‘ wurde zum Synonym für ’neu‘ und ‚Pionier‘ im Wortschatz der Zionisten. Die neue Nation sollte hebräisch sein, nicht jüdisch sein, und in hebräischen Dörfern leben, weit weg von den jüdischen ‚Schtetl‘ Osteuropas, wo die meisten zionistischen Pioniere geboren und aufgewachsen waren.

Seit dem frühen 20. Jahrhundert sollte das moderne Hebräisch, die neue gemeinsame Sprache, den neuen hebräischen Menschen formen, einen Gegenpol zum Diaspora-Juden. Die Befürworter der neuen Umgangssprache gaben traditionellen jüdischen Konzepten eine neue, säkulare Bedeutung. So kam es, dass das Wort ‚bitahon‘, das ‚Vertrauen in Gott‘ bedeutet, die Bedeutung ‚militärische Sicherheit‘ annahm.“
¹¹

Auf Jabotinskys Wikipedia-Seite findet sich folgendes Zitat von ihm:
„Um uns vorzustellen, was ein echter Hebräer ist, um uns ein Bild von ihm zu machen, haben wir kein Beispiel, an dem wir uns orientieren können. Stattdessen müssen wir die Methode der ipcha mistavra (aramäisch für die Ableitung von etwas aus seinem Gegenteil) anwenden: Wir nehmen als Ausgangspunkt den Yid (hier als pejoratives Wort für Jude verwendet) von heute und versuchen, uns sein genaues Gegenteil vorzustellen.

 

Der Hebräer sollte stolz und unabhängig sein

Löschen wir aus diesem Bild alle Persönlichkeitsmerkmale, die so typisch für einen Yid sind, und fügen wir alle wünschenswerten Eigenschaften ein, deren Fehlen so typisch für ihn ist. Weil der Jude hässlich, kränklich und unansehnlich ist, werden wir das Idealbild des Hebräers mit männlicher Schönheit, Statur, massiven Schultern, kräftigen Bewegungen, leuchtenden Farben und Farbschattierungen ausstatten.

Der Jude ist ängstlich und unterdrückt; der Hebräer sollte stolz und unabhängig sein. Der Yid ist allen zuwider; der Hebräer sollte alle bezaubern. Der Yid hat Unterwerfung akzeptiert; der Hebräer sollte wissen, wie man befiehlt. Der Yid versteckt sich gerne mit angehaltenem Atem vor den Augen der Fremden; der Hebräer sollte mit Unverfrorenheit und Größe vor die ganze Welt marschieren, ihr direkt und tief in die Augen schauen und sein Banner hissen: ‚Ich bin ein Hebräer!‘“
¹²

Ich verlasse das „Eretz Israel“ Museum und mache mich auf dem Weg zu meinem nächsten Stopp, dem „Palmach“ Museum. Die „Palmach“ war eine Sondereinheit der Haganah, der größten zionistischen Miliz, aus der die israelische Armee entstanden ist. Das Museum befindet sich nur einige hundert Meter auf derselben Straße, der Chaim Levanon Street.

Am Empfang des Museums erfahre ich, dass das „Palmach“ Museum nur geführt besucht werden kann. Ohne zu verstehen warum, nehme ich den Terminvorschlag für den nächsten Tag um 9.30, fahre ins Hotel zurück und verbringe den Rest des Abends mit Recherche.

Der Traum von der Eisernen Mauer

Vladimir „Zev“ Jabotinsky ist eine interessante, ambivalente Figur. In Israel sind 57 Straßen, Parks und Plätze nach ihm benannt, mehr als nach jeder anderen Person der israelischen Geschichte. Er war Soldat, Übersetzer, Autor und Vordenker des Zionismus. Trotz seiner Abneigung gegen den „Yid“ hat er die osteuropäischen Juden eindringlich vor einer bevorstehenden Katastrophe und versucht, sie zur Emigration nach Palästina zu bewegen. Er starb 1940, hat also die Gründung des Staates Israel nicht mehr erlebt.

Jabotinsky machte sich keine Illusionen über das zionistische Projekt und war ein Freund klarer Worte. So schrieb er 1925: „Wenn Du die Absicht hast ein Land zu kolonisieren, in dem schon Menschen leben, benötigst Du Besatzungstruppen oder einen Wohltäter, der die Besatzungstruppen stellt. Der Zionismus ist ein Kolonialprojekt und aus diesem Grund ist die Frage der Truppen das entscheidende Thema.“ 

Jabotinskys Sicht auf die Palästinenser schien zumindest nicht so stark von Rassismus und Überheblichkeit getrübt gewesen sein, wie zur damaligen Zeit üblich.  1923 veröffentlichte die heute noch existierende Zeitung  „Haaretz“  einen Artikel von ihm, in dem er die Lage so einschätzte:  „ kann sich die (zionistische)  Besiedlung nur unter dem Schutz einer von der lokalen Bevölkerung unabhängigen Kraft entwickeln, hinter einer EISERNEN MAUER, die sie nicht durchbrechen können. ….eine freiwillige Vereinbarung ist einfach nicht möglich.

Solange die Araber einen Hoffnungsschimmer bewahren, dass es ihnen gelingen wird, uns loszuwerden, kann nichts auf der Welt sie dazu bringen, diese Hoffnung aufzugeben, eben weil sie kein Geröll sind, sondern ein lebendiges Volk. Und ein lebendiges Volk wird erst dann bereit sein, in solch schicksalhaften Fragen nachzugeben, wenn es die Hoffnung aufgibt, die fremden Siedler loszuwerden.“

An anderer Stelle schreibt Jabotinsky: “ Die Araber liebten ihr Land ebenso sehr wie die Juden. Instinktiv verstanden sie die zionistischen Bestrebungen sehr gut, und ihre Entscheidung, ihnen zu widerstehen, war nur natürlich ….. Es gab kein Missverständnis zwischen Juden und Arabern, sondern einen natürlichen Konflikt.“ Mit dieser Haltung hebt er sich angenehm ab von einem anderen schriftstellerisch ambitionierten Volkshelden der Kolonialzeit, seinem Zeitgenossen Winston Churchill. 

Der Hund im Zwinger

Churchills Überzeugung bezüglich der Überlegenheit der weißen Rasse war eindeutig und repräsentiert wohl eher den Konsens der seiner Zeit. Der Literaturnobelpreisträger brachte seine Haltung knackig auf den Punkt: „Ich gestehe nicht zu, dass der Hund im Zwinger das Recht auf den Zwinger hat, auch wenn er dort sehr lange gelegen haben mag. Ich gestehe ihm dieses Recht nicht zu. Ich gestehe zum Beispiel nicht zu, dass den Indianern in Amerika oder den Schwarzen in Australien großes Unrecht angetan wurde.

 Ich gestehe nicht zu, dass diesen Völkern dadurch Unrecht geschehen ist, dass eine stärkere Rasse, eine höherwertige Rasse oder zumindest eine weltklügere Rasse, um es einmal so auszudrücken, an ihre Stelle getreten ist. Ich gestehe das nicht zu. Ich glaube nicht, dass die Indianer das Recht hatten, zu sagen: ´Der amerikanische Kontinent gehört uns, und wir wollen nicht, dass diese europäischen Siedler hierher kommen`. Sie hatten weder das Recht noch die Macht dazu.“ ¹³

Auch Churchills Kommentare zu den Arabern sind prägnant und unmissverständlich: “Churchill bezeichnete die Araber als „niedrigere Erscheinung“ als die Juden, die er als „höherwertige Ethnie“ im Vergleich zu den „großen Horden des Islam“ ansah und bezeichnete die Palästinenser als „barbarische Horden, die nichts als Kamelmist fressen.“ ¹⁴

 Auch wenn die rassistische Haltung der zionistischen Vordenker vielleicht nicht so deutlich ausgeprägt und klar formuliert war wie die des Multitalents Churchill, steht außer Frage, dass Rassismus und Rassendünkel eine notwendige Voraussetzung für das zionistische Kolonialprojekt in Palästina waren.

Die Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen, d.h. der weißen Rasse, bereitete den Boden für die systematische Dehumanisierung der Palästinenser. Der amerikanische Anthropologe David Livingston schreibt in seinem Buch „Monster Erschaffen – Die Unheimliche Macht der Dehumanisierung“: „Der Dehumanisierung einer Gruppe geht typischerweise ihre Rassifizierung voraus.“

Barbarei gegen Zivilisation

„Europa wäre ein moderner Judenstaat an der Grenze zu Asien, sozusagen als Vorposten der Kultur gegen die Barbarei, vorteilhaft.“ Theodor Herzls Äußerung in seiner sonst eher pragmatischen und praxisorientierten Bauanleitung für den „Judenstaat“ zeugt von dem Rassendünkel, der damals, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, unhinterfragte Konvention war. Während der explizite Glaube an die Überlegenheit der weißen Rasse als Repräsentantin von Kultur, als Bezwingerin und Erzieherin minderwertiger Rassen mittlerweile weltweit tabuisiert ist, scheint er in der politischen Elite Israels und großen Teilen der israelischen Bevölkerung fortzuleben.

In seiner Rede vor dem amerikanischen Kongress am 24.7.2024 beschrieb Benjamin Netanjahu die Auseinandersetzung mit dem palästinensischen Widerstand erneut mit diesen Worten: „Es handelt sich nicht um einen Kampf der Kulturen. Es ist ein Zusammenprall zwischen Barbarei und Zivilisation.“ Netanjahus Rede, ein eindrucksvolles Beispiel zynischer und schamloser Propaganda, wurde mit 58 stehenden Ovationen gefeiert. ¹⁵

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